Recht

Entscheidungen zwischen Leben und Tod: Souverän agieren mit Hintergrundwissen!

von Rosemarie Sailer, LL.M., Fachanwältin für Medizinrecht, Wienke & Becker – Köln, www.kanzlei-wbk.de

Mit der Patientenverfügung können wir vorsorglich über unser Leben und Sterben bestimmen, bevor wir dazu nicht mehr in der Lage sind. Auf dem Schriftstück wird vermerkt, in welche Maßnahmen eingewilligt bzw. nicht eingewilligt wird. In vielen Fällen führt die unklare Auslegung des Textes jedoch dazu, dass die Entscheidung für den Arzt schwierig bleibt. Was sollte der Arzt wissen, um die herausfordernde Situation souverän zu meistern?

Wann bindet die Patientenverfügung den Arzt?

Die Angst ist groß, einerseits unberechtigt Behandlungen zu unterlassen oder – andererseits – unerwünschte Behandlungen vorzunehmen. In der Regel wird der behandelnde Arzt im Zweifel den Chefarzt hinzuziehen. Fragen, die beantwortet werden sollen, sind dabei insbesondere:

  • Ist der Inhalt der Patientenverfügung verbindlich?
  • Sind die Formvorschriften eingehalten?
  • Was ist, wenn Angehörige widersprechen bzw. sich uneinig sind?
  • Muss ein Betreuer bestellt werden?
  • Wer entscheidet im Zweifel?

Wann ist überhaupt Raum für eine Patientenverfügung?

Die Patientenverfügung wird dann relevant, wenn ein Volljähriger einwilligungsunfähig (geworden) ist – etwa, wenn er im Koma liegt. Wenn der Patient aber z. B. verwirrt ist, ist es nicht immer klar, ob er im Besitz seiner geistigen Fähigkeiten ist, um eine wirksame und selbstbestimmte Entscheidung zu treffen. Da der behandelnde Arzt die Feststellung der Einwilligungsunfähigkeit trifft, sollte er sich immer mit Angehörigen abstimmen bzw. im Zweifel das zuständige Betreuungsgericht einschalten.

Patientenverfügung muss konkret formuliert sein

Die Patientenverfügung muss schriftlich abgefasst und vom Patienten in einem Zustand getroffen worden sein, in dem er noch einwilligungsfähig war. Was inhaltlich zu beachten ist, hat der BGH mit Beschluss vom 06.07.2016 aktuell festgelegt: Die Patientenverfügung bindet den Arzt nur dann, wenn konkrete Maßnahmen oder Behandlungssituationen benannt werden (Az. XII ZB 61/16). Der Patient muss daher dezidiert aufschreiben, welche Maßnahmen er in welcher Situation (z. B. „im Sterben liegend“, „unheilbar erkrankt“) wünscht bzw. nicht wünscht. Nicht ausreichend ist es nach dem BGH, wenn Patientenverfügungen Sätze enthalten wie „Ich lehne lebenserhaltende Maßnahmen ab“ oder „Ich wünsche ein würdevolles Sterben.“

Diese Patientenverfügungen sind ohne weitere Konkretisierung zu unbestimmt und binden den Arzt rechtlich daher nicht. Konkrete ärztliche Maßnahmen, die vom Patienten wirksam abgelehnt werden können, sind nachfolgend aufgeführt:

  • Welche Maßnahmen kann der Patient wirksam verweigern?
  • Künstliche Ernährung
  • Beatmung
  • Dialyse
  • Organersatz
  • Wiederbelebung
  • Verabreichung von Medikamenten
  • Schmerzbehandlung
  • Alternative Behandlungsmaßnahmen
  • Gestaltung des Sterbeprozesses

Wer entscheidet über die Patientenverfügung?

Sobald ein Patient einwilligungsunfähig ist, muss ein Betreuer bestellt werden. Dies ist häufig ein Angehöriger. Er prüft, ob die Patientenverfügung aktuell ist, und entscheidet, ob die getroffenen Anordnungen bestimmt sind und auf die konkrete Behandlungssituation passen. Hierzu wird er auf Informationen durch den behandelnden Arzt angewiesen sein und sich eng mit diesem bzw. dem Chefarzt abstimmen.

PRAXISHINWEIS | Sie als Arzt sollten gemeinsam mit dem Betreuer die Behandlungssituation und die Prognose besprechen und gemeinsam entscheiden, welche Maßnahmen zulässig sind. Letztlich entscheidet immer der (mutmaßliche) Wille des Patienten. Diesen zu ermitteln, ist die Aufgabe des Betreuers – nicht des Arztes. Grundsätzlich ist darauf zu achten, dass keine Entscheidungen getroffen werden, bevor ein Betreuer bestellt ist. In der Regel wird auch erst dieser den Arzt vom Bestehen einer Patientenverfügung unterrichten.

Zu unterscheiden: Vorsorgevollmacht

Von der Patientenverfügung, mit der der Patient selbst Maßnahmen anordnet, ist die Vorsorgevollmacht zu unterscheiden; mit ihr überträgt der Patient die Entscheidungsbefugnis auf einen Dritten, der dann an seiner Stelle entscheidet. Eine Vorsorgevollmacht kann auch neben einer Patientenverfügung bestehen. Sie kann zwar auch mündlich erteilt werden, sollte jedoch aus Dokumentations- und Nachweisgründen immer schriftlich erfolgen.

Auch für die Vorsorgevollmacht hat der BGH im Beschluss vom 06.07.2016 konkretisiert, dass der Bevollmächtigte auf Grundlage einer Vorsorgevollmacht den Abbruch bzw. das Unterlassen lebenserhaltender Maßnahmen anordnen darf. Voraussetzung: Die – schriftliche – Vorsorgevollmacht ist inhaltlich ebenso bestimmt wie eine Patientenverfügung, d. h. es werden darin konkrete Behandlungssituationen und -maßnahmen genannt. Sonst muss das Betreuungsgericht zur Entscheidung angerufen werden.

In der Praxis gibt es häufig Abgrenzungsschwierigkeiten, die nachfolgend beleuchtet werden, um dem Arzt rechtliche Sicherheit zu geben:

Wirksame (konkrete) Patientenverfügung/Wirksame Vorsorgevollmacht

Der Inhalt der Patientenverfügung ist maßgebend. Sind sich jedoch der Betreuer und der Bevollmächtigte nicht einig, ist grundsätzlich der Patientenverfügung der Vorzug zu geben. Im Zweifel entscheidet das Betreuungsgericht.

 

Unwirksame bzw. keine Patientenverfügung/Wirksame Vorsorgevollmacht

Der Inhalt der Vorsorgevollmacht ist in dieser Konstellation maßgebend, d. h. der Bevollmächtigte entscheidet und berücksichtigt den mutmaßlichen Willen des Patienten.

 

Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht sind unwirksam/liegen nicht vor/passen nicht zur konkreten Behandlungssituation

Der Betreuer entscheidet unter Berücksichtigung des mutmaßlichen Willens des Patienten. Geht es um den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen, ist das Betreuungsgericht anzurufen.

 

Wirksame Patientenverfügung, aber Angehörige widersprechen

Stellt der Betreuer fest, dass die Patientenverfügung wirksam ist, ist dieser Wille grundsätzlich verbindlich. Allerdings geht es darum, den mutmaßlichen Willen des Patienten zu ermitteln. Sofern also Angehörige widersprechen, sollte im Zweifel das Betreuungsgericht angerufen werden.

 

Betreuer und (Chef-)Arzt sind sich nicht einig, ob die Patientenverfügung wirksam ist bzw. ob sie eine konkrete Behandlungssituation erfasst

Das Betreuungsgericht wird angerufen, dieses muss entscheiden.

 

Vorsorgevollmacht ist inhaltlich unbestimmt, es geht um den Abbruch von lebenserhaltenden Maßnahmen

Das Betreuungsgericht muss angerufen werden.

FAZIT | Die Einzelfallkonstellationen zeigen, dass letztlich nicht der Arzt über Leben und Tod entscheidet, aber unmittelbar involviert ist. Als Arzt sollten Sie die genannten Konstellationen im Blick haben. Denn in der konkreten Situation müssen Sie wissen, wie Sie mit Einwänden von Angehörigen bzw. Zweifeln an der Wirksamkeit der Patientenverfügung bzw. Vorsorgevollmacht umgehen. Bitte bedenken Sie aber auch: Wird der mutmaßliche Patientenwille ermittelt, besteht immer die Gefahr, dass der Patient in der konkreten Situation vielleicht doch anders entschieden und lebenserhaltende Maßnahmen gewollt hätte. Bestehen entsprechende Anhaltspunkte, sollten Sie daher darauf hinwirken, das Betreuungsgericht einzuschalten. Da in Zukunft das Thema „selbstbestimmtes Sterben“ auch durch Gesetzesentwicklungen in anderen Ländern immer relevanter wird, ist in Krankenhäusern künftig vermehrt mit Fällen zu rechnen, in denen Patienten eine Patientenverfügung verfasst haben.