Recht

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Ausschluss der ambulanten ärztlichen Zwangsbehandlung betreuter Personen

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die die Frage zum Gegenstand hat, ob § 1906a BGB insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, als der Paragraph ärztliche Zwangsmaßnahmen ausschließlich im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus zulässt. Die Frage, ob eine versteckte Medikamentengabe Zwangsmedikation ist und nur im stationär in einem Krankenhaus stattfinden darf, muss nun wohl im langen Weg durch die Instanzen geklärt werden.

Die Kammer führt zur Begründung aus, dass die Verfassungsbeschwerde nicht den Anforderungen an die Subsidiarität genügt:

  • Der Beschwerdeführer hat nicht um fachgerichtlichen Rechtsschutz nachgesucht, obwohl ihm dies zumutbar war. § 1906a BGB enthält Auslegungsspielräume, zu denen sich noch keine eindeutige fachgerichtliche, zumal höchstrichterliche Rechtsprechung herausgebildet hat.
  • Es bedarf daher einer (weiteren) fachgerichtlichen Klärung, die dem Bundesverfassungsgericht eine gesicherte Entscheidungsgrundlage in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ermöglicht.
  • Schließlich ist durch die gesetzlich vorgesehene Evaluierung eine weitere fachliche und rechtliche Klärung zu erwarten.
Hintergrund

Die gerichtliche Genehmigung einer ärztlichen Zwangsbehandlung von Betreuten setzt gemäß § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB voraus, dass sich der Patient im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus befindet.

§ 1906a Genehmigung des Betreuungsgerichts bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen

(1) Widerspricht eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), so kann der Betreuer in die ärztliche Zwangsmaßnahme nur einwilligen, wenn

(…)

7. die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, durchgeführt wird.

Der zuletzt in einer Pflegeeinrichtung lebende Beschwerdeführer (er ist im Mai 2019 verstorben) litt an fortgeschrittener Demenz mit ausgeprägter Orientierungslosigkeit und fehlendem situativen Verständnis, aufgrund derer er mit Neuroleptika behandelt wurde. Im Rahmen der Demenzerkrankung des Beschwerdeführers kam es immer wieder zu organisch wahnhaften Störungen, aufgrund derer er die Einnahme von Medikamenten verweigerte.

Der behandelnde Neurologe sah es als erforderlich an, den Beschwerdeführer zum Zweck der zwangsweisen Medikation in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Dies sei aber aus medizinischer Sicht eigentlich kontraindiziert, da der mit dem Krankenhausaufenthalt verbundene Ortswechsel in der Vergangenheit mehrfach zu einer deutlichen Verschlechterung des Krankheitsbildes geführt habe. Die Verabreichung von Medikamenten sei aus ärztlicher Sicht auch in der Pflegeeinrichtung möglich, beispielsweise durch Beigabe zum Essen, ohne dass Zwang oder freiheitsentziehende Maßnahmen notwendig seien.

Betreuungsgericht: Offene Medikation oder stationäre Zwangsbehandlung

Die Betreuerin bat das Betreuungsgericht um eine „klarstellende Feststellung“, dass die Verabreichung ärztlich verordneter Medikamente nicht von einer Genehmigungspflicht durch das Betreuungsgericht abhängig zu machen sei. Das Betreuungsgericht vertrat die Auffassung, dass die verdeckte Gabe von Medikamenten, verabreicht durch Untermischung in Nahrungsmittel oder Getränke, eine Zwangsmedikation im Sinne des § 1906a BGB darstelle, und wies darauf hin, dass die Praxis der verdeckten Medikamentengabe zu ändern sei. Alternativ könne eine Zwangsbehandlung nach § 1906a BGB beantragt werden, die aber nur stationär in einem Krankenhaus und nicht in einem Pflegeheim durchgeführt werden dürfe.

Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Recht auf körperliche Unversehrtheit), Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (Selbstbestimmungsrecht), Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichbehandlung) sowie Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde). Die Regelung des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB lasse eine erforderliche medizinische Behandlungsmaßnahme, die dem mutmaßlichen Willen des Beschwerdeführers entspreche, nur im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthalts zu, wo er der ernsthaften Gefahr ausgesetzt sei, ein seine Gesundheit, wenn nicht sein Leben bedrohendes Delir (akute Verwirrtheit) zu erleiden. Diese Gefahr bestehe indes in dem ihm vertrauten Pflegeheim nicht.

Wesentliche Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts

Die Verfassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg. Sie genügt nicht den Anforderungen an die Subsidiarität.

1. Der Beschwerdeführer hat nicht die Möglichkeit genutzt, vor den Fachgerichten eine Feststellung zu erlangen, ob eine verdeckte Verabreichung der ihm ärztlich verordneten Medikamente überhaupt einer Genehmigungspflicht durch das Betreuungsgericht nach § 1906a Abs. 2 BGB unterlag.

Das Betreuungsgericht muss ein Genehmigungsverfahren immer dann durchführen, wenn Zweifel daran bestehen, ob ein geplantes Vorgehen dem Willen des Betroffenen entspricht. Stellt das Gericht fest, dass eine Genehmigung nicht erforderlich ist, so hat es den Antrag auf betreuungsrechtliche Genehmigung abzulehnen und ein sogenanntes „Negativattest“ zu erteilen. Der Beschwerdeführer stellte auch keinen gerichtlichen Antrag auf Genehmigung einer nicht stationären Zwangsbehandlung und unterließ es, weiter gerichtlich gegen die Versagung des Negativattests vorzugehen.

2. § 1906a BGB enthält Auslegungsspielräume, zu denen sich noch keine eindeutige fachgerichtliche, zumal höchstrichterliche Rechtsprechung herausgebildet hat.

a) Die Modalität der Durchführung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme im Sinne von § 1906a Abs. 1 BGB ist gesetzlich nicht geregelt. Dies betrifft insbesondere die Verabreichung von Medikamenten durch verdeckte Maßnahmen, die äußerlich nicht als medizinische Behandlung wahrnehmbar sind, etwa die heimliche Beimischung zerkleinerter Präparate in Speisen und Getränken. Dies wirft die Frage auf, ob das Merkmal der „Zwangsmaßnahme“ in § 1906a BGB nur Fälle körperlichen Zwangs oder auch Fälle der Heimlichkeit umfasst.

Es ist auch klärungsbedürftig, wie sich der Umstand auswirkt, dass ein entgegenstehender natürlicher Wille, der erst die Anwendung von § 1906a BGB begründet, nur und erst dann vorliegen dürfte, wenn der Betroffene diesen ausdrücklich geäußert oder zumindest – etwa durch Gesten – nach außen manifestiert hat. Äußert der Betreute seinen natürlichen Willen nicht, weil er dazu nicht willens oder nicht in der Lage ist, handelt es sich bei einer ohne Einwilligung des Betroffenen vorgenommenen Behandlungsmaßnahme zwar um einen Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (vergleiche Beschluss des Zweiten Senats vom 8. Juni 2021 – 2 BvR 1866/17 u. a. -, Rn. 57), allerdings wohl nicht um eine ärztliche Zwangsmaßnahme im Sinne des § 1906a BGB (so zu § 1906 Abs. 3 BGB a. F. BTDrucks 17/11513, S. 7). Ob eine Heilbehandlung notwendigerweise dem natürlichen Willen des Betreuten im Sinne von § 1906a Abs. 1 Satz 1 BGB widerspricht, wenn Medikamente unter das Essen gemischt werden, um sie dem Betroffenen verborgen zu verabreichen, ist fachgerichtlich ungeklärt. Daran knüpft die ebenfalls offene Frage an, inwieweit eine heimliche Vergabe als ärztliche Zwangsmaßnahme anzusehen ist, die erst den Anwendungsbereich von § 1906a BGB eröffnet.

b) Gleichermaßen fachgerichtlich ungeklärt ist der interne Normkonflikt zwischen dem Ziel des Gesetzgebers, einerseits Zwangsmaßnahmen auf das für den Betreuten notwendige Maß zu beschränken, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden (§ 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB) und möglichst nah am Willen des Betroffenen zu bleiben (§ 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit § 1901a BGB), andererseits aber die ärztliche Zwangsmaßnahme in § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB an einen stationären Krankenhausaufenthalt zu koppeln. Der (mutmaßliche) Wille des Betroffenen im Sinne von § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB kann gerade auf eine Behandlung im Pflegeheim als für ihn milderes Mittel gegenüber einer stationären Behandlung im Krankenhaus gerichtet sein. Diesen einfachrechtlichen internen Konflikt aufzulösen, obliegt zuvörderst den Fachgerichten.

c) Schließlich bleibt die Frage fachrechtlich klärungsbedürftig, wie der Begriff „stationär“ in § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB auszulegen ist und ob darunter auch teilstationäre Behandlungen zu fassen sind, wodurch der Zwang zur Einweisung ins Krankenhaus abgemildert werden könnte.

3. Schließlich ist durch die gesetzlich vorgesehene Evaluierung eine weitere fachliche und rechtliche Klärung zu erwarten, welche die sachliche Entscheidungsgrundlage für das Bundesverfassungsgericht verbessern oder – nach einer Gesetzesänderung – verändern würde. Dies betrifft insbesondere Zweifel, ob die angegriffene Regelung des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hinreichend Rechnung trägt, soweit die Beschränkung der Zwangsbehandlung auf den stationären Bereich eines Krankenhauses dazu führt, dass Schutzlücken in Bezug auf die gesundheitliche Versorgung des Betroffenen entstehen.

BVerfG, 02.11.2021 – 1 BvR 1575/18
Mitteilung des BVerfG Nr. 93/2021 v. 09.11.2021