Recht

Für Oberärzte wichtig: Bundessozialgericht lehnt Vergütung für alkoholkranken Patienten ab

von Rainer Hellweg, Fachanwalt für Medizinrecht, armedis Rechtsanwälte, Hannover, www.armedis.de

Die jetzt veröffentlichten Entscheidungsgründe zum Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17. November 2015 zeigen, wie restriktiv Gerichte den Anspruch auf Krankenhausvergütung sehen, wenn hierbei Fragen der Verweildauer betroffen sind (Az. B 1 KR 20/15 R, Abruf-Nr. 146482 ). Dem Krankenhausträger steht der Vergütungsanspruch gegen die Krankenkasse nur dann zu, wenn eine stationäre Behandlung aus rein medizinischen Gründen erforderlich war. Was bedeutet dieses Urteil für Kliniken – und warum sollten es Oberärzte kennen?

Thema Krankenhausvergütung für Oberärzte relevant

Das Problemfeld der Vergütung von Krankenhausleistungen ist auch für Oberärzte von Bedeutung. Wenn die Krankenkasse Zahlungen verweigert und der Klinikträger den Vergütungsanspruch nicht durchsetzen kann, trifft dies wirtschaftlich zwar zunächst den Klinikträger. Doch auch für Oberärzte ist dies relevant: Viele sind häufig auch für den wirtschaftlichen Erfolg der Abteilung mitverantwortlich. Zudem sind Zielvereinbarungen von Oberärzten manchmal an den wirtschaftlichen Erfolg der Abteilung geknüpft (siehe hierzu den Beitrag auf S. 1: „Zielvereinbarungen für Oberärzte“).

Schließlich sind auch Oberärzte arbeitsrechtlich verpflichtet, im Rahmen des medizinisch Vertretbaren wirtschaftlich zu arbeiten. Kennt der Oberarzt die Hintergründe des vorliegenden Urteils nicht, so läuft er Gefahr, Leistungen ohne Vergütung zu erbringen – dies ist selbstverständlich unwirtschaftlich.

Der Sachverhalt zum BSG-Urteil

In dem Fall vor dem BSG ging es um einen stark alkoholabhängigen Patienten, der schon mit rund 50 Jahren verstarb. Es bestand ein durch jahrelangen Alkoholabusus geprägtes Krankheitsbild – u. a. mit Abhängigkeitssyndrom, kognitiven Störungen und hirnorganischen Wesensveränderungen, Leberzirrhose und Ösophagusvarizen. Der Patient stand unter Betreuung.

Wegen eines Entzugssyndroms mit Krampfanfall wurde der alkoholabhängige Patient aufgrund notärztlicher Einweisung vollstationär im Krankenhaus aufgenommen, und zwar in die Klinik für Psychiatrie. Zahlreiche mehrmonatige Krankenhausaufenthalte schlossen sich an – teils aufgrund eines Alkoholentzugssyndroms, teils nach Einweisungen als Notfall. Mehrmals wurde versucht, den Patienten in einem Wohnheim für Suchtkranke unterzubringen. Diese Versuche scheiterten jedoch, da der Patient dauerhaft beaufsichtigt werden musste. Das konnte jedoch im Wohnheim nicht sichergestellt werden, weshalb die Aufenthalte dort abgebrochen wurden.

Argumentation der Krankenkasse

Obwohl der Patient ohne ständige Aufsicht zu keinem alkoholabstinenten Verhalten in der Lage und daher seine Gesundheit gefährdet war, lehnte die Krankenkasse die Bezahlung von zwei längeren Krankenhausaufenthalten in Höhe von insgesamt rund 11.000 Euro ab. Begründung der Kasse: Zwar sei der alkoholabhängige Patient weiterhin unbedingt behandlungsbedürftig gewesen. Es sei jedoch nicht medizinisch notwendig gewesen, den Patienten stationär im Krankenhaus zu behandeln. Es hätte ausgereicht, ihn in einer anderen Einrichtung unterzubringen.

Argumentation der Klinik

Das Krankenhaus wehrte sich gegen die Rechnungskürzungen und klagte – mit folgender Begründung: Der Patient habe aus medizinischen Gründen nur in ein betreutes Wohnen für Suchtkranke entlassen werden können. Die Mitarbeiter der Klinik hätten sich frühzeitig bemüht, im Rahmen des Versorgungsmanagements einen entsprechenden Platz zu finden. Das sei letztlich nicht gelungen, da ein solcher Ort nicht zeitnah zur Verfügung stand. Dieser Umstand könne der Klinik nicht angelastet werden und daher nicht dazu führen, dass die Behandlung nicht vergütet wird.

Die Entscheidung des BSG

Das BSG gab der Krankenkasse Recht und lehnte den Vergütungsanspruch des Krankenhauses ab. In den Entscheidungsgründen stellt das Gericht ausdrücklich fest: Es sei nicht erheblich, ob sich die Klinikärzte im Rahmen des Versorgungsmanagements um eine Obhut des Patienten in einer Einrichtung für Suchtkranke hinreichend bemüht hätten. Gleichsam sei es irrelevant, dass ein Platz in einer solchen Einrichtung nicht zeitgerecht zur Verfügung gestanden hätte, um den Patienten aufnehmen zu können.

Den Einwand des Krankenhauses, die Klinikmitarbeiter hätten sich nach Kräften bemüht und insoweit nichts „falsch gemacht“, ließ das BSG nicht gelten. Zwar gestand das Gericht zu, dass man den Patienten wegen einer gesundheitlichen Gefährdung keinesfalls in seinem häuslichen Umfeld hätte belassen können. Jedoch trage die Klinik und nicht die Krankenkasse das Risiko, dass im konkreten Fall keine Alternative dazu bestand, den Patienten weiter stationär zu behandeln. Die „Strukturverantwortung“ wird also finanziell der Krankenhausseite aufgebürdet!

Das BSG hob hervor: Die Krankenkassen hätten weder die Möglichkeit noch die Pflicht, die gesellschaftlichen sozialen Rahmenbedingungen zu ändern und das Leistungsspektrum an Behandlungseinrichtungen zu erweitern. Da die Kassen insofern keine „Strukturverantwortung“ hätten, könne ihnen auch nicht das finanzielle Risiko dafür aufgebürdet werden, wenn Patienten mangels hinreichend anderweitiger Einrichtungen in stationärer Krankenhausbehandlung verbleiben müssten. Allein die Tatsache, dass der Patient im vorliegenden Fall – theoretisch – in eine beschützende Umgebung wie z. B. einem Wohnheim hätte untergebracht werden können, lasse den Vergütungsanspruch der Klinik gegenüber der Krankenkasse entfallen.

Auf diesem Wege wird die „Strukturverantwortung“, zumindest das finanzielle Risiko des Vergütungsausfalls, durch die Rechtsprechung letztlich der Krankenhausseite auferlegt. Dies kann man gerecht finden oder auch nicht. In jedem Fall entscheiden die Sozialgerichte derzeit so.

Allein medizinische Kriterien entscheiden über Behandlung

Der Oberarzt muss wissen: Eine Krankenhausbehandlung muss allein aus medizinischen Gründen notwendig sein. Nur sie begründet die Notwen-digkeit einer stationären Behandlung, die anschließend zu vergüten ist. Grundsätzlich reichen „organisatorische“ Gründe nicht aus, um den Patienten (weiter) zu behandeln und hierfür eine Vergütung zu erhalten. Die folgenden Beispiele sind „vergütungstechnisch“ nicht stichhaltig:

  • Es ist kein Platz in der Reha oder für eine sonstige Anschlussbehandlung vorhanden.
  • Nach einer Hüft-OP kann sich ein älterer Patient zu Hause allein nicht mehr versorgen.
  • Die stationäre Aufnahme erfolgt einige Zeit vor der OP, um in Ruhe das Aufklärungsgespräch zu führen und Vorbereitungen zu treffen.
  • Ein Termin für eine diagnostische Maßnahme, die in einem anderen Haus durchgeführt werden muss, ist nicht zu bekommen.

Was passiert im Gerichtsprozess?

Seit dem Beschluss des Großen Senats des BSG vom 25. September 2007 (Az. GS 1/06) gilt: Behandelnde Krankenhausärzte haben keine Einschätzungsprärogative darüber, ob eine stationäre Aufnahme notwendig war. Das bedeutet: Die Entscheidung der Klinikärzte ist im Nachhinein durch das Gericht voll überprüfbar. Allerdings wurde die ex-ante-Perspektive für die Beurteilung als maßgeblich festgelegt.

Hieraus folgt: Im Prozess hat das Gericht die Frage, ob eine stationäre Krankenhausbehandlung über die gesamte Verweildauer des Patienten medizinisch notwendig war, in vollem Umfang zu überprüfen. Hierzu wird ein Sachverständigengutachten eingeholt. Dabei muss der Gutachter den Kenntnisstand zugrunde legen, den der verantwortliche Krankenhausarzt zum Zeitpunkt der Behandlung hatte.

PRAXISHINWEIS | Entscheidend im Prozess ist es meistens, wie tief die Behandlungsdokumentation ins Detail geht. Aus diesen Unterlagen muss sich die stationäre Behandlungsbedürftigkeit aus medizinischen Gründen belegen lassen. Je genauer und konkreter die Beschreibung im Aufnahmebogen und auch später im Entlassungsbrief dargestellt wird, desto mehr Begründungsansätze hat der Sachverständige im Gerichtsprozess. Daher sollten gerade solche „kritischen“ Fälle vom Oberarzt ausführlich dokumentiert werden – zumal der Prozess oft Jahre später stattfindet und der Sachverhalt dann meist allein nach Lage der Akten beurteilt wird.