OLG Naumburg: Abweichen vom medizinischen Standard kann sogar geboten sein!

von Dr. Rainer Hellweg, Fachanwalt für Medizinrecht, armedis Rechtsanwälte, Hannover, www.armedis.de

Der Fall

Im Urteilsfall ging es um eine Patientin, die an Bauchschmerzen litt. Sie wurde stationär aufgenommen, um eine Eierstockzyste zu entfernen. Der Chefarzt der Klinik für Frauenheilkunde nahm den Eingriff vor. Bei dem Versuch einer laparoskopischen Exstirpation zeigte sich eine hochgradige Entzündung, die Adhäsionen im gesamten Bauchraum verursacht hatte. Deshalb ging man zur Laparotomie über. Anschließend wurde eine Adhäsiolyse vorgenommen. Dabei verletzte der operierende Chefarzt die Dünndarmserosa an zwei Stellen. Einen kleineren Defekt versorgte er noch selbst. Für die Versorgung des weiteren Defekts – 5 bis 7 cm groß – zog er einen Viszeralchirurgen hinzu. Dieser verschloss die Serosaläsion mit einer Längsnaht. Nach dem Eingriff verschlechterte sich der Zustand der Patientin; es ergab sich ein Ileus im tiefen Dünndarm. Daher musste eine Re-Laparotomie vorgenommen werden. Dabei stellte man im terminalen Ileum eine deutliche Einengung des Lumens fest.

Die Patientin erhob Haftungsklage und machte mehrere Behandlungsfehler geltend: Zum einen sei die operative Lösung der Adhäsionen fehlerhaft erfolgt, was sich an dem bis zu 7 cm großen Serosadefekt zeige. Zum anderen sei dieser nicht ordnungsgemäß versorgt worden. Die Längsnaht bei Versorgung der Serosaläsion sei nicht lege artis gewesen, weshalb es später zu dem Ileus gekommen sei. Auch sei die Dokumentation lückenhaft, weshalb sich die Beweislast zulasten des Arztes umkehren müsse.

Die Entscheidung

Das OLG Naumburg wies den Haftungsanspruch der Patientin zurück. Es attestierte dem Arzt, vor der Operation mangelhaft dokumentiert zu haben. Insbesondere seien die Gründe für die Hinzuziehung des Viszeralchirurgen im OP-Bericht nicht dargelegt worden. Zwar müssten Selbstverständlichkeiten nicht dokumentiert werden. Dies gelte aber nicht für den hier vorgenommenen Eingriff, bei dem es sich keinesfalls um eine Routineoperation gehandelt habe. Auch hatte der Sachverständige im Prozess festgestellt, dass die Lage der Läsion an der Basis des Dünndarms und damit in der Nähe wichtiger Blutgefäße eine Besonderheit dargestellt habe. Über diese Situation sei auch laut Zeugenaussage des hinzugezogenen Chirurgen diskutiert worden. Da dies im OP-Bericht nicht aufgeführt sei, sei die Dokumentation als unvollständig zu bewerten.

Vor Gericht ging es auch um die Frage, ob die Läsion des Dünndarms ohne Einengung des Lumens genäht und anschließend die Durchgängigkeit geprüft worden sei. Da auch dies im OP-Bericht nicht dokumentiert war, gingen die Richter davon aus, dass die Maßnahme unterblieben ist. Es sei somit zu vermuten, dass ein Behandlungsfehler vorliege.

Zwar habe der Operateur die Serosaläsion mit einer Längsnaht versorgt, was wegen der Gefahr einer Einengung des Lumens nicht dem medizinischen Standard entspreche – so die Wertung des OLG Naumburg, das dem Sachverständigengutachten folgte. Allerdings gebiete es eine besondere Behandlungssituation in manchen Fällen, vom Standard abzuweichen. Dabei könne je nach Situation eine modifizierte Strategie erforderlich sein. Dem Gutachter zufolge hätten die Ärzte wegen der schweren Bauchfellentzündung der Patientin vor der Frage gestanden, entweder die an sich erforderliche, aber höchst riskante Darmresektion vorzunehmen oder aber die normalerweise standardwidrige Längsnaht auszuführen. Die Entscheidung des Operateurs für die Längsnaht als „kleineres Übel“ sei nicht zu beanstanden. Mit Blick auf diesen Punkt verneinte das OLG einen Behandlungsfehler.

Behandlungsfehler bejaht, aber Kausalität verneint

An anderer Stelle jedoch beurteilte das Gericht das operative Vorgehen als fehlerhaft. Die Behandlerseite habe nicht nachweisen können, dass am Schluss des Eingriffs eine standardmäßige Prüfung der Durchgängigkeit des Dünndarms – über eine visuelle Kontrolle hinaus – erfolgt sei. Nach Einschätzung des Sachverständigen hätte man vielmehr den Darm an dieser Stelle „ausmelken“ müssen. Allerdings konnte der Sachverständige nicht sicher sagen, dass das Darmlumen durch die Längsnaht eingeengt gewesen sei und dass man dies durch das „Ausmelken“ hätte feststellen und korrigieren können. Aufgrund dieser Einschätzung des medizinischen Gutachters verneinte das Gericht die Kausalität. Somit wurde die Klage der Patientin im Ergebnis als unbegründet angesehen, obwohl ein Behandlungsfehler vorlag.

Abweichen vom medizinischen Standard kann geboten sein!

Das OLG Naumburg hob hervor, dass im dortigen Fall das Abweichen vom Standard während der Operation aufgrund der besonderen medizinischen Situation nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten war. Aber Vorsicht: Entscheidend ist immer die konkrete Situation im einzelnen Behandlungsfall – hier muss der Arzt die richtige Entscheidung treffen.

Welche Bindungswirkung haben Leitlinien und Richtlinien?

Wenn in Ärztekreisen bisweilen behauptet wird, ein Verstoß gegen eine Leitlinie sei als Behandlungsfehler zu qualifizieren, ist dies juristisch so pauschal nicht zutreffend.

Drei Klassen von Leitlinien

Bei Leitlinien kommt es darauf an, um welche genau es sich handelt. Leitlinien werden in drei, auf die Entwicklungsmethodik bezogene Klassen eingeteilt: Eine S1-Leitlinie wird von einer Expertengruppe im informellen Konsens erarbeitet und stellt lediglich eine Empfehlung dar. Bei einer S2-Leitlinie hat immerhin schon eine formale Konsensfindung stattgefunden. Erst bei einer S3-Leitlinie handelt es sich aber um eine evidenzbasierte Konsensusleitlinie.

PRAXISHINWEIS | Ein Verstoß gegen eine S1- oder S2-Leitlinie ist keinesfalls per se als behandlungsfehlerhaft einzustufen, sie indiziert nicht einmal das Vorliegen eines Behandlungsfehlers. Anders ist dies bei einer S3-Leitlinie, der zumindest ein „starker Empfehlungscharakter“ zukommt.

 

Nach der Rechtsprechung liegt ein Behandlungsfehler grundsätzlich vor, wenn gegen die Regeln und Standards der ärztlichen Wissenschaft verstoßen wird. Der Bundesgerichtshof hebt aber immer wieder hervor, dass Leitlinien von ärztlichen Fachgremien oder Verbänden nicht unbesehen mit dem zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers gebotenen medizinischen Standard gleichgesetzt werden können. Insofern kann der Umstand, dass Leitlinien vorliegen, die Einholung eines Sachverständigengutachtens im Haftungsprozess – bezogen auf die konkreten Umstände im einzelnen Behandlungsfall – keinesfalls ersetzen.

Richtig ist aber nach der Prozesserfahrung auch, dass medizinische Sachverständige Leitlinien häufig als Richtschnur für ihre Beurteilung zugrunde legen. Daher bedarf es einer guten medizinischen Begründung, wenn der Arzt im Einzelfall von einer bestehenden Leitlinie abgewichen ist.

Richtlinien im Haftungsprozess gewichtiger als Leitlinien

Richtlinien, verfasst von Bundesausschüssen der Ärzte oder von Fachgesellschaften, haben im Gegensatz zu Leitlinien zunächst sozialrechtliche Konsequenzen, etwa für Vergütungsfragen. Sie können aber im Einzelfall indizieren, dass ein Behandlungsfehler vorliegt, und stellen – im Gegensatz zu Leitlinien – gewissermaßen einen Mindeststandard dar. Wenn Richtlinien unterschritten werden, kann dies im Haftungsprozess als Indiz für einen Behandlungsfehler gewertet werden.

FAZIT | Dass der Arzt für seinen Patienten im konkreten Fall die bestmögliche Behandlungsmethode auswählen soll, ist eine Binsenweisheit. Dies ist aber auch der Maßstab für den Standard, der im Haftungsprozess die Grundlage für die juristische Beurteilung bildet. Die Verantwortung, im jeweiligen Behandlungsfall richtig zu entscheiden, kann dem Arzt nicht abgenommen werden – dies gilt auch bei haftungsrechtlicher Betrachtung. In der konkreten Situation kann es auch notwendig sein, vom Standard explizit abzuweichen, wie die Entscheidung des OLG Naumburg zeigt. Wer Leitlinien „blind“ befolgt, begibt sich medizinisch wie auch juristisch mitunter auf Glatteis.