Therapiefreiheit versus Budgetvorgaben: Wie viel Ökonomisierung verträgt die Medizin?

von RAin, FAin für MedR Rosemarie Sailer, LL.M., Wienke & Becker – Köln, www.kanzlei-wbk.de

Klinikärzte sehen sich zunehmend gezwungen, wirtschaftliche Aspekte in ihre Entscheidungen bei der Patientenbehandlung einzubeziehen. Wie jedes andere Unternehmen müssen Krankenhäuser mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen haushalten. Dabei entsteht oft ein Spannungsverhältnis zwischen der Weisungsfreiheit des Arztes in medizinischen Fragestellungen und dem Wunsch der Umsetzung ökonomischer Ziele. Dieser Beitrag soll für die Problematik sensibilisieren und dem Oberarzt Argumente für die nächste Budgetverhandlung oder Auseinandersetzung über Kosten liefern. 

Muster-Regelungen der DKG und der MBO-Ä kollidieren

„Der Arzt ist an die Weisungen des Krankenhausträgers gebunden. Seine ärztliche Verantwortung bei der Diagnostik und Therapie bleibt hiervon unberührt.“ „Der Arzt ist bei der Behandlung der Patienten im Rahmen des ärztlich Notwendigen zu zweckmäßigem, wirtschaftlichem und sparsamem Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln des Krankenhauses verpflichtet.“ Das sind zwei Standardsätze aus einem gängigen Dienstvertrag für Krankenhausärzte, die auch von der Beratungs- und Formulierungshilfe Chefarztvertrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) empfohlen werden.

„Ärztinnen und Ärzte üben ihren Beruf nach ihrem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit aus. Sie dürfen keine Grundsätze anerkennen und keine Vorschriften oder Anweisungen beachten, die mit ihren Aufgaben nicht vereinbar sind oder deren Befolgung sie nicht verantworten können.“ „Ärztinnen und Ärzte dürfen hinsichtlich ihrer ärztlichen Entscheidungen keine Weisungen von Nichtärzten entgegennehmen.“ Das sind zwei Gebote aus der Musterberufsordnung für die Deutschen Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä).

Wie passt das zusammen?

Die Ärzteseite versucht, die geltenden ärztlichen Standards in die Praxis umzusetzen und mit fortwährenden Personalkürzungen und Regressdrohungen die gesteckten Ziele zu erreichen – ein Unterfangen, das zunehmend frustrierend ist. Die kaufmännische Seite denkt – nachvollziehbar – in erster Linie an die Erfüllung der eigenen, von der Unternehmensleitung gesetzten Rentabilitätsziele. Die Krankenkassen schließlich gaukeln ihren Kunden vor, dass „ihre Gesundheit optimal abgesichert“ sei, mischen sich aber über ihre Medizinischen Dienste immer mehr in Indikationsfragen und Behandlungsabläufe ein, um Kosten zu senken. Wo bleiben da der originäre ärztliche Heilauftrag i. S. des Hippokratischen Eides und die an der Patientenversorgung orientierte Zielsetzung der Unternehmen Klinik und Praxis?

Nach welchen Kriterien hat die Behandlung zu erfolgen?

Ärzte müssen die Einhaltung des jeweiligen aktuellen medizinischen Standards gewährleisten und unterliegen gleichzeitig dem Gebot der Wirtschaftlichkeit, Angemessenheit, Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der ärztlichen Leistungen (sogenannte WANZ-Kriterien). Die Verantwortung leitender Ärzte im Krankenhaus für das Budget, auf das sie häufig keinen Einfluss haben, kann aber dazu führen, dass die Qualität der ärztlichen Versorgung und damit das Wohl der Patienten leidet. Weder das Weisungsrecht des Arbeitgebers noch die Pflicht zur Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebots rechtfertigen jedoch einen Eingriff in die ärztliche Entscheidungsfreiheit.

Defensivmedizin ist nicht das, was die Patienten von verantwortungsbewussten Ärzten erwarten dürfen. Nach § 630a Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) hat die Behandlung nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen. Rechtlich gesehen geht der Gesetzgeber daher immer von einer optimalen, nicht von einer wirtschaftlich vertretbaren Behandlung aus. Im Zweifel gehen daher medizinische Behandlungsstandards ökonomischen Anforderungen und Möglichkeiten vor.

Wie viel Weisungsrecht hat der Krankenhausträger?

Die nähere Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses im Bereich der Medizin unterscheidet sich deutlich von dem anderer Branchen. Das dem Arbeitgeber zustehende Weisungs- und Direktionsrecht – abgeleitet aus dem Gewerberecht – bezieht sich daher nur auf organisatorische Vorgaben wie Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit sowie auf die Konkretisierung der individuellen Arbeitsbedingungen und die allgemeinen Grundsätze der Leistungserbringung. Hinsichtlich einzelner medizinischer Entscheidungen sind Ärzte jedoch allein ihrem Gewissen sowie den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst unterworfen und genießen ärztliche Weisungsfreiheit.

Dementsprechend sieht § 2 Abs. 4 MBO-Ä vor, dass Ärzte bei ihren ärztlichen Entscheidungen keine Weisungen von Nichtärzten entgegennehmen dürfen. Dies bedeutet, dass weder Klinikträger noch kaufmännische Geschäftsführer noch Medizinische Dienste der Krankenkassen Ärzten Weisungen erteilen dürfen, die sich auf die konkrete Behandlung von Patienten beziehen. Tun sie dies dennoch, sind Ärzte aus berufsrechtlichen Gründen nicht verpflichtet, diesen Anordnungen Folge zu leisten. Im Gegenteil: Sie müssen etwaige aus ärztlicher Sicht entstehende Nachteile in der Versorgung der jeweiligen Patienten verhindern und stets Sorge dafür tragen, dass dem Patienten der aktuelle anerkannte fachärztliche Standard in der Behandlung zukommt.

MERKE | Kann der Arzt den aktuell anerkannten fachärztlichen Standard in der jeweiligen Behandlungssituation nicht gewährleisten – etwa weil ihm aufgrund on Personal- oder Investitionskürzungen die notwendigen Ressourcen nicht zur Verfügung stehen – muss er den Patienten auf diesen Umstand hinweisen. Außerdem muss er dafür sorgen, dass dem Patienten ggf. an anderer Stelle (Überstellung in eine andere Klinik) der notwendige und von dem Patienten erwartete fachärztliche Standard zugute kommt.

Einschränkungen durch Wirtschaftlichkeit geboten

Diese so beschriebene Entscheidungsfreiheit und -verpflichtung der Ärzte besteht jedoch nicht völlig uneingeschränkt. Es steht außer Frage, dass sich bei der Planung der Behandlung eines Patienten eine rein wirtschaftliche Betrachtung verbietet. Die Einbindung des Arztes in das wirtschaftliche Geflecht eines Krankenhauses gebietet es aber, dass der Arzt bei seiner Abwägung nicht ausschließlich medizinische Aspekte zugrunde legen kann und darf. Vielmehr sind den ärztlichen Entscheidungen durch das sogenannte Wirtschaftlichkeitsgebot Grenzen gesetzt.

Dieses Wirtschaftlichkeitsgebot ist für den Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in § 12 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) V geregelt. Danach müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. Ziel einer wirtschaftlichen Behandlung ist eine effiziente Zweck-Mittel-Relation, bei der qualitativ hochwertige Leistungen erbracht und gleichzeitig ausufernde Kosten vermieden werden sollen. Was mehr kostet, aber denselben Erfolg wie eine kostengünstigere Methode verspricht, hält den Anforderungen des Wirtschaftlichkeitsgebots nicht stand.

  • Beispiel

Bei der Auswahl von medizinischem Instrumentarium (Osteosynthesematerial) oder bei Implantaten muss stets das günstigere Angebot ausgewählt werden, wenn dies medizinisch ebenso geeignet ist wie teurere Alternativen.

Zudem wird auch über den GKV-Bereich hinaus in Arbeitsverträgen auf das Wirtschaftlichkeitsgebot Bezug genommen. So heißt es in § 3 des Chefarzt-Mustervertrags der Deutschen Krankenhaus Gesellschaft (DKG): „Der Arzt ist bei der Behandlung der Patienten im Rahmen des ärztlich Notwendigen zu zweckmäßigem, wirtschaftlichem und sparsamem Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln des Krankenhauses verpflichtet.“ Die meisten Ärzte verpflichten sich also bereits mit Abschluss ihres Arbeitsvertrags dazu, auch ökonomische Aspekte in ihre Entscheidungen einfließen zu lassen.

Bei Interessenkonflikten zwischen dem ärztlichen Personal und dem Krankenhausträger sieht der Mustervertrag in § 3 Abs. 3 folgende Regelung vor: „Über die Einführung von […] Maßnahmen, die Mehrkosten verursachen, hat der Arzt Einvernehmen mit dem Krankenhausträger herbeizuführen, soweit nicht die medizinische Notwendigkeit in Einzelfällen solche Maßnahmen oder Methoden unabdingbar macht.“

Umsetzung in der Praxis oft schwierig

So eindeutig diese Bestimmungen in der Theorie klingen, so schwierig sind sie häufig im Klinikalltag umzusetzen. Regelmäßig können Ärzte die leitliniengerechte Behandlung der Wahl nicht durchführen, weil Klinikträger die Übernahme der Kosten verweigern und auf günstigere Therapiemethoden verweisen. Ob es um die Anschaffung eines neuen technischen Geräts oder die Auswahl eines bestimmten Instrumentariums geht: Letztlich sind es oft die Klinikträger, die ein kostengünstigeres Prozedere befürworten und damit in die ärztliche Weisungsfreiheit eingreifen. Bei Uneinigkeit hat entgegen der ausdrücklichen berufs- und arbeitsrechtlichen Bestimmungen meistens die kaufmännische Seite das letzte Wort. Auch der Wirtschaftlichkeitsdruck der Krankenkassen und der Medizinischen Dienste ist so groß, dass sich viele Ärzte einer unmittelbaren Beeinflussung ihrer Therapieentscheidungen aus-gesetzt sehen.

Ärzte sollten sich in dieser Situation stets vor Augen halten, dass sie in Diagnose und Therapie unabhängig sind und zum Wohle ihrer Patienten handeln müssen. Es fällt allein in ihren Entscheidungs- und Verantwortungsbereich, welche Patienten sie auf welche Art und Weise behandeln. Wenn sie sich für eine medizinisch erforderliche, aber Mehrkosten verursachende wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode entscheiden, darf die Krankenhausleitung oder der Medizinische Dienst diese nicht versagen. Sollte sich ein Arzt aus medizinisch nachvollziehbaren Gründen einer Weisung des Klinikträgers oder Auffassung eines Medizinischen Dienstes widersetzen, wird er zwar seiner ärztlichen Versorgungsverantwortung gegenüber dem Patienten gerecht, riskiert aber gleichzeitig Spannungen mit der Klinikleitung und den Kostenträgern. Dieses Spannungsverhältnis müssen die Ärzte aushalten, wenn sie ihre berufsrechtlich und vertraglich zugesicherten Therapiefreiheiten ernst nehmen. Das dürfen die Patienten von ihren Ärzten durchaus in berufsethischer, aber auch in rechtlicher Hinsicht erwarten.

MERKE | Lassen sich Ärzte zu einer überwiegend an ökonomischen Maßgaben orientierten Behandlung verleiten, laufen sie Gefahr, den jeweiligen Facharztstandard zu unterlaufen und öffnen zudem der weiter fortschreitenden Ökonomisierung der Medizin Tür und Tor. Daher gilt nach wie vor: Vorfahrt für die ärztliche Therapiefreiheit!

 

So gehen Sie als Oberarzt am besten vor

Bei Unstimmigkeiten sollten sich Ärzte auf ihre Entscheidungskompetenzen hinsichtlich der medizinischen Weisungsfreiheit berufen und einen offenen Dialog mit dem Krankenhausträger und den kaufmännischen Geschäftsführungen sowie den Kollegen bei den Medizinischen Diensten der Krankenkassen suchen. Eine gute Vorbereitung trägt dazu bei, gegenüber dem Gesprächspartner sachlich fundiert zu argumentieren. Dies kann einen adäquaten Interessenausgleich schaffen. Wenn sich die kaufmännische Geschäftsführung oder der jeweilige Arbeitgeber in solchen Gesprächen dennoch zu ökonomisch beeinflussten Maßnahmen veranlasst sehen, sollten Ärzte die medizinischen Beweggründe nochmals schriftlich vortragen. Auf diese Weise können sie nachweisen, dass sie sich um die standardgemäße Behandlung ihrer Patienten bemüht haben. Die Zahl derer, die sich mutig den Anordnungen der Krankenhausträger widersetzen und eine kostenintensivere Maßnahme durchführen, wird aus nachvollziehbaren Gründen auch in Zukunft gering bleiben.