Recht

Wann muss der Oberarzt einem nicht erschienenen Patienten „hinterhertelefonieren“?

von Rechtsanwältin Henriette Nehse, armedis Rechtsanwälte, Hannover, www.armedis.de

Immer wieder kommt es vor, dass sich Patienten nicht wieder melden oder nicht erscheinen – obwohl zum Beispiel ein Termin zur Nachkontrolle vereinbart wurde oder ein Laborbefund noch aussteht. In welchen Fällen muss der Oberarzt initiativ mit dem Patienten Kontakt aufnehmen? Und was ist zu tun, wenn der Patient beim Telefonanruf nicht erreichbar ist? 

Pflicht zur therapeutischen Aufklärung

Jeder Arzt – also auch der Oberarzt – ist im Rahmen der therapeutischen Aufklärung verpflichtet, den Patienten darauf hinzuweisen, dass eine Nachuntersuchung oder Wiedervorstellung notwendig ist. Dabei reicht es nicht, allgemein zu raten, sich bei einer Verschlechterung des Zustands wieder in Behandlung zu begeben oder das Weitere mit dem Hausarzt abzuklären.

Gefahren bei der Versäumung eines Termins verdeutlichen

Insbesondere wenn negative Veränderungen kurzfristig möglich sind, hat der Arzt dafür zu sorgen, dass darauf auch rasch reagiert werden kann. Somit muss dem Patienten deutlich vor Augen geführt werden, warum eine Nachkontrolle oder weitergehende Untersuchung erforderlich und wie dringlich diese ist. Dabei sollte auch unmissverständlich klargemacht werden, welche Gefahren sich ergeben, wenn der Patient den Termin versäumen sollte.

PRAXISHINWEIS | Es gilt der Grundsatz: Je akuter der Klärungsbedarf ist und je gravierender und gefährlicher die Diagnose sein kann, desto weiter geht die Verpflichtung für die behandelnden Ärzte.

 

Was muss der Arzt konkret unternehmen?

Es hängt vom Einzelfall ab, ob der Arzt initiativ tätig werden oder den Patienten kontaktieren muss: Ein einfacher Brief, der einige Tage nach der Entlassung aus der Klinik versandt wird, reicht meist nicht aus. In dringenden Fällen muss der Arzt initiativ und kurzfristig mit dem Patienten Kontakt aufnehmen! Falls er nicht erreicht wird, genügt eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter nicht immer. Bei medizinischer Dringlichkeit kann es notwendig sein, mehrere Anrufversuche zu unternehmen oder eine Kontaktaufnahme über Angehörige zu veranlassen – soweit diese bekannt sind oder sich ermitteln lassen.

Unabhängig davon muss der Klinikarzt den niedergelassenen Arzt des Patienten – meist den Hausarzt – über das Behandlungsergebnis und die Diagnostik im Krankenhaus unterrichten. Dies entlastet aber nicht von der etwaig bestehenden Pflicht, zusätzlich direkt an den Patienten heranzutreten und ihn auf die besondere Dringlichkeit einer weiteren Abklärung hinzuweisen.

Fall 1: Was veranlasst der Arzt, wenn Patient nicht erscheint?

Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm hatte folgende Frage zu entscheiden: In welchen Fällen muss der Arzt einen Patienten wegen einer erneuten Vorstellung kontaktieren, wenn dieser nicht erscheint? (Urteil vom 21. Mai 2013, Az. 26 U 140/12, Abruf-Nr. 140280). Im Urteilsfall wurde einem Gynäkologen ein Behandlungsfehler vorgeworfen. Dieser war von einer Patientin – nach Überweisung durch den Hausarzt – zur Abklärung von Unterleibsschmerzen konsultiert worden. Der Gynäkologe untersuchte die Patientin, erkannte jedoch keine Ursachen und überwies sie zum Urologen. Da auch urologische Ursachen nicht erkennbar waren, riet der Urologe in einem Arztbrief an den Gynäkologen und den Hausarzt zu einer weiteren Darmuntersuchung.

Die Patientin suchte allerdings den Gynäkologen danach nicht wieder auf. Die empfohlene Darmspiegelung ließ sie erst mehr als ein halbes Jahr später durchführen. Letztlich wurde ein Sigmakarzinom festgestellt, woran die Patientin verstarb.

Haftungsvorwurf: Mangelnde Initiative des Gynäkologen

Die Kinder der verstorbenen Patientin warfen dem Gynäkologen vor Gericht vor, dass er eine gastroenterologische Abklärung hätte veranlassen müssen. Zumindest hätte er von sich aus die Patientin zur Wiedervorstellung auffordern oder nachfragen müssen, was der Urologe geraten habe.

Gericht weist Haftungsklage ab

Im Ergebnis wies das Gericht die Klage ab. Begründung: Es sei dem Gynäkologen nicht vorwerfbar, dass er eine weitere medizinische Abklärung unterlassen habe. Als „Primärbehandler“ sei der Hausarzt für die Koordination der Behandlung verantwortlich gewesen. Vom Gynäkologen habe nicht verlangt werden können, dass er nach der urologischen Untersuchung von sich aus tätig wird, um bei der – nicht erschienenen – Patientin doch noch eine Kontrollvorstellung herbeizuführen. Eine solche Pflicht hätte der Gynäkologe nach Ansicht des OLG Hamm nur bei einer erkennbaren massiven Gefährdungssituation haben können – etwa bei einem Tumorverdacht. Da diese nicht vorlag, habe der Gynäkologe aus dem Fernbleiben der Patientin folgern dürfen, dass sich deren Beschwerden gebessert hätten.

PRAXISHINWEIS | Neben Chefärzten sind auch Oberärzte haftungsrechtlich betroffen, wenn es um organisatorische Abläufe in der Abteilung geht – vor allem, wenn ihnen ein bestimmter Bereich übertragen wurde. Hier muss der Oberarzt dafür sorgen, dass die Behandlungen und Kommunikationsabläufe lege artis erfolgen. Dies kann der Oberarzt durch Anweisungen an das nachgeordnete ärztliche und nichtärztliche Personal sowie durch gelegentliche Kontrollen sicherstellen.

 

Selbstverständlich kann der Oberarzt die Patienten nicht zwingen, sich einer Nachkontrolle oder einer weiteren diagnostischen Aufklärung zu unterziehen. Wenn der Patient dem fernbleibt, obwohl von ärztlicher Seite alles Mögliche und Gebotene getan wurde, scheidet ein Behandlungsfehler aus. Bei einem solchen Verhalten ist zumindest ein Mitverschulden des Patienten möglich.

 

Fall 2: Patient nimmt seine Kontrolltermine nicht wahr

Im Hinblick auf die oft prozessentscheidende Beweislastverteilung hat das OLG Saarbrücken mit Urteil vom 4. Februar 2015 eine interessante Entscheidung getroffen: Wenn der Patient Kontrolltermine nicht wahrnimmt und dadurch den Heilungsverlauf erheblich gefährdet, scheidet eine Beweislastumkehr zu seinen Gunsten aus (Az. 1 U 27/13, Abruf-Nr. 145767). Das bedeutet: Der Patient selbst muss also zum Beispiel belegen, dass ein Behandlungsfehler des Arztes vorliegt.

In diesem Fall ging es um einen Patienten, der wegen eines akuten Abdomens in die Klinik aufgenommen wurde und noch am gleichen Tag operiert werden musste. In der Bauchhöhle wurde eine Peritonitis festgestellt. Die umfangreiche Operation umfasste auch die Entfernung der stark entzündeten Gallenblase. Trotz nachfolgender und erkennbarer Komplikationen wurde keine Kontrastmittel-Röntgendarstellung durchgeführt; mit ihr hätte man festgestellt, ob der Gallengang verletzt ist. Danach hätte die erforderliche Behandlung eingeleitet werden können.

Behandlungsfehler: ja – weiteres Schmerzensgeld: nein

Die unterbliebene Kontrastmittel-Röntgendarstellung wertete das Gericht als Behandlungsfehler. Trotzdem wies es die Haftungsklage ab. Der Patientenseite stünden nicht mehr als 15.000 Euro an Schmerzensgeld zu, die jedoch bereits außergerichtlich gezahlt worden waren. Mehr Schmerzensgeld stünde ihr nicht zu, da die Kausalität der späteren Komplikationen für das Versterben nicht feststünden und der Patient durch sein Fernbleiben den Heilungsverlauf erheblich gefährdet habe. Daher könne ihm auch keine Beweislastumkehr zugute kommen.

Vorsicht: Mitverschulden auf Patientenseite selten justiziabel

Trotz dieses aktuellen Urteils gilt: Die Gerichte sind generell eher zurückhaltend, ein Mitverschulden bei Patienten zu bejahen. Zwar darf grundsätzlich vom Patienten erwartet werden, dass er den Therapie- und Kontrollanweisungen des Arztes folgt. Allerdings hat der Arzt einen Wissens- und Informationsvorsprung gegenüber dem Patienten als medizinischen Laien und muss daher sicherstellen, dass dieser deutlich darüber aufgeklärt wird, warum eine bestimmte Maßnahme notwendig ist.

Dabei muss der Arzt dafür sorgen, dass der Patient seine Hinweise auch versteht. Je dringlicher der medizinische Handlungsbedarf beim Patienten ist, desto stärker muss der Arzt auf ihn einwirken.

PRAXISHINWEIS | Gerade wenn es dem Oberarzt nicht gelingt, mit dem Patienten Kontakt aufzunehmen oder dieser sich als „schwierig“ erwiesen hat, sollte in der Patientenakte besonders sorgfältig dokumentiert werden. Wird dem Patienten „hinterhertelefoniert“, sollten Zeitpunkt und Inhalt des Telefonats bzw. die Anzahl der Anrufversuche festgehalten werden. Auch Anrufe bei Angehörigen oder dem Hausarzt sollten niedergeschrieben werden, um einem Haftungsprozess möglichst vorzubeugen.