Medizin

Volkskrankheit Adipositas: mit Diabetesmedikament zum Traumgewicht?

Semaglutid, Wirkstoff aus der Gruppe der GLP-1-Rezeptor-Agonisten, wird zur Behandlung des Diabetes Typ 2 eingesetzt. Die Substanz, unter dem Handelsnamen Ozempic zur Behandlung von Diabetes zugelassen, kann darüber hinaus beim Abnehmen helfen. Denn Semaglutid führt auch bei Menschen ohne Diabetes zu einer Gewichtsreduktion von etwa 15 Prozent. Die verschreibungspflichtigen Spritzen mit einer Zulassung für Diabetikerinnen und Diabetiker wirken ähnlich wie das körpereigene Hormon GLP-1, das unter anderem den Appetit hemmt. Doch mittlerweile wird derselbe Wirkstoff zunehmend “off label“, also ohne Zulassung, bei Übergewichtigen als Life-Style-Medikament zum Abnehmen eingesetzt.

[!] Die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie e. V. (DGE) weist auf die Risiken und Nebenwirkungen einer von den Zulassungsbehörden nicht freigegebenen, unkontrollierten Anwendung hin. Zudem gefährde der Ansturm auf die Medikamente die Versorgung der eigentlichen Zielgruppe, der Diabetiker.

Bereits im Jahr 2017 gingen Schätzungen davon aus, dass weltweit mehr als 700 Millionen Menschen adipös sind und dass Adipositas direkt oder indirekt für etwa sieben Prozent aller Todesfälle verantwortlich ist (1). „Gefährlich ist Dickleibigkeit besonders für Menschen mit Risiken und Vorerkrankungen, etwa Bluthochdruck, erhöhte Blutfette oder Diabetes Typ 2“, sagt Prof. Dr. med. Harald J. Schneider, Sprecher der Sektion Angewandte Endokrinologie der DGE aus München und Landshut. Denn Bauchspeck, also viel Fettgewebe in der Unterhaut sowie rund um die inneren Bauchorgane, sei mit Insulinresistenz und chronischen Entzündungen assoziiert. Doch Abnehmen ist leichter gesagt als getan.

Für Menschen mit Diabetes Typ 2 wurde deshalb eine neue Medikamentengruppe entwickelt, Glukagon-ähnliche Peptide-1, sogenannte GLP-1-Rezeptor-Agonisten. „Sie helfen erfolgreich bei der Kontrolle des Diabetes und beim Abnehmen, indem sie Völlegefühl verstärken und Hunger und Heißhunger reduzieren“, so der Diabetologe und Endokrinologe. Die höchste Effektivität unter den derzeit zugelassenen GLP-1-Rezeptor-Agonisten (Exenatid, Liraglutid, Lixisenatid, Albiglutid, Dulaglutid, Semaglutid) in Bezug auf eine Gewichtsreduktion zeigt der Wirkstoff Semaglutid. In großen klinischen Studien, etwa der STEP-1-Studie, lag die Gewichtsreduktion unter Therapie mit Semaglutid nach 68 Wochen bei 14,9 Prozent. Dabei wurde es in der Dosis von 2,4 mg einmal wöchentlich als Spritze verabreicht und von Lebensstiländerungen begleitet. Die Placebo-Gruppe nahm im gleichen Zeitraum nur 2,4 Prozent ab (2). In Deutschland ist Semaglutid für Diabetikerinnen und Diabetiker unter dem Handelsnamen Ozempic in der Dosis 1,0 mg seit dem Jahr 2018 zugelassen und bei Tausenden in der Anwendung.

Mittlerweile wurde die Indikation von Semaglutid auf die Therapie der Adipositas erweitert. In den USA ist Semaglutid seit Juni 2021 unter dem Handelsnamen Wegovy in erhöhter Dosis (bis zu 2,4 mg einmal wöchentlich als Spritze) zugelassen. Seit Januar 2022 hat Wegovy auch die Zulassung der EU-Kommission in der Indikation bei Adipositas erhalten. Voraussetzung ist entweder ein BMI von 27 oder höher mit mindestens einer gewichtsbedingten Begleiterkrankung oder ein BMI von 30 oder höher, jeweils in Verbindung mit der Durchführung einer kalorienreduzierten Diät und erhöhter körperlicher Aktivität. „Aufgrund von Lieferengpässen ist es in Europa jedoch derzeit nicht erhältlich“, sagt Schneider.

Endokrinologen: GLP-1 Rezeptor-Agonisten nicht als Lifestyle-Therapie im Eigengebrauch nehmen

„Es ist naheliegend, dass sich die Aufmerksamkeit auch der ansonsten gesunden aber übergewichtigen Normalbevölkerung auf die neuen Wirkstoffe richtet“, stellt Schneider fest. Er nennt die USA als Beispiel: „Dort wird das verschreibungspflichtige Diabetesmedikament Ozempic sehr stark im Off-Label-Use, also ohne Zulassung, zur Gewichtsreduktion verwendet; auch weil viele Prominente wie Elon Musk das stark bewerben (3). Alleine der Hashtag #Ozempic wurde 350 Millionen Mal in Sozialen Medien geteilt (4)“, berichtet er.

Nicht ohne Folgen für die Diabetiker: „Inzwischen ist dadurch der Wirkstoff Semaglutid mancherorts knapp geworden.“ Aber nicht nur deshalb handele es sich um einen gefährlichen Trend: „Die unkontrollierte Anwendung ohne Indikation ist mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden, etwa Übelkeit und Erbrechen. Aber auch Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse und Gallenblase können die Folge sein. In Tierversuchen fand man zudem ein potenziell erhöhtes Risiko für bestimmte Schilddrüsenkrebsarten“, sagt er. Zudem wisse man nichts über die Langzeitwirkungen. Er fasst zusammen: „Diese Medikamente sollten nur spezialisierte Ärztinnen und Ärzte verschreiben – und auch nur, wenn die medizinische Notwendigkeit besteht und die Anwendung in der Folge sorgfältig überwacht wird.“

Adipositas ist nicht nur ein Lifestyle-Problem, sondern als Erkrankung zu werten“, sagt Prof. Dr. med. Stephan Petersenn von der ENDOC Praxis für Endokrinologie und Andrologie in Hamburg und Pressesprecher der DGE. „Mit den GLP1-Agonisten besteht eine interessante Therapieoption, die jedoch immer in Zusammenhang mit diätetischen Maßnahmen erfolgen sollte. Hier ist wichtig, dass die Anwendung nur unter erfahrener ärztlicher Begleitung etwa von Endokrinologinnen und Endokrinologen oder Diabetologinnen und Diabetologen erfolgt.“ Und er ergänzt: Es sei problematisch, dass die Kosten der Medikation bisher nicht von den Kassen übernommen werden.