Recht

Extrahieren erhaltungswürdiger Zähne – einfache oder gefährliche Körperverletzung?

Lange war es umstritten, ob eine unerlaubte Zahnextraktion durch einen Zahnarzt eine „gefährliche Körperverletzung“ im Sinne des § 224 StGB darstellt. Dieser scheinbar akademische Streit hat in der Praxis erhebliche Konsequenzen. Die Entscheidung des OLG ist eine Einzelfallentscheidung, jedoch ist damit zu rechnen, dass andere Gerichte dem folgen.

von Dr. med.dent. Wieland Schinnenburg, Fachanwalt für Medizinrecht, Hamburg / www.rechtsanwalt-schinnenburg.de

Einem Zahnarzt wurde vorgeworfen, in den Jahren 2010 bis 2014 in 33 Fällen bei seinen Patienten Zähne extrahiert zu haben, obwohl diese noch erhaltungswürdig waren. Zuvor hatte er behauptet, dass die Extraktionen zwingend sind, die Patienten haben seinem Urteil vertraut und in die Zahnentfernungen eingewilligt.

Im Vertrauen auf die Angaben des Zahnarztea hatten die Patienten den Zahnextraktionen zugestimmt. Hätte er seine Patienten über die alternativen Behandlungsmethoden aufgeklärt, hätten diese den Zahnerhalt vorgezogen und die Zahnextraktion abgelehnt. Dem Zahnarzt sei es dabei darauf angekommen, seine Patienten im weiteren Verlauf mit für ihn einträglichem Zahnersatz versorgen zu können, so das Gericht..

Diese durch Täuschung erlangte Einwilligung ist unwirksam. Unstreitig liegt damit eine vorsätzliche einfache Körperverletzung im Sinne des § 223 StGB vor. Lange war es jedoch umstritten, ob eine unerlaubte Zahnextraktion durch einen Zahnarzt auch eine gefährliche Körperverletzung im Sinne des § 224 StGB darstellt. Dieser scheinbar akademische Streit hat in der Praxis erhebliche Konsequenzen: Die einfache Körperverletzung ist mit einer Höchststrafe von fünf Jahren bedroht, die gefährliche Körperverletzung mit zehn Jahren. Das bedeutet zunächst, dass der Zahnarzt mit einer höheren Strafe zu rechnen hat. Es bedeutet aber auch, dass die Taten später verjähren.

§ 224 Strafgesetzbuch (StGB)

(1) Wer die Körperverletzung

1. durch Beibringung von Gift oder anderen gesundheitsschädlichen Stoffen,
2. mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs,
3. mittels eines hinterlistigen Überfalls,
4. mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich oder
5. mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung

begeht, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

(2) Der Versuch ist strafbar.

Das Oberlandesgericht Karlsruhe (OLG) hat entschieden, dass es um eine gefährliche Körperverletzung geht. Denn die Extraktionszange sei ein gefährliches Werkzeug, das geeignet ist, dem Opfer erhebliche Verletzungen beizubringen, nämlich den unwiederbringlichen Verlust eines Teils des Gebisses und eine offene Wunde.

Konsequenterweise hielt das OLG die schon mehrere Jahre zurück liegenden Taten noch nicht für verjährt. Der Zahnarzt muss also mit einer erheblichen Bestrafung rechnen.

OLG Karlsruhe, 16.03.2022 – 1 Ws 47/22

 

Hintergrund: Extraktionszange als gefährliches Werkzeug nach § 224 StGB

Extrahiert ein Zahnarzt seinem Patienten ohne medizinische Indikation mehrere Zähne, begeht er die Körperverletzung mittels eines anderen gefährlichen Werkzeugs i.S.v. § 224 Abs. 1 Ziff. 2 StGB.

Die Einordnung eines gefährlichen Werkzeugs als Mittel der Tatbegehung im Verhältnis zur Waffe durch das 6. StrRG v. 26.01.1998 (BGBl I 164) hat insoweit eine Änderung erfahren, als das gefährliche Werkzeug – anders als bei § 223a StGB – in der neuen Fassung des § 224 Abs. 1 Ziff. 2 StGB nicht mehr als Beispiel für eine Waffe, sondern eine Waffe nunmehr als Unterfall eines gefährlichen Werkzeugs zu verstehen ist (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 224 Rn. 9).

Demzufolge kann eine Abgrenzung, ob ein ärztliches oder zahnärztliches Instrument als gefährliches Werkzeug einzustufen ist oder nicht, nicht mehr danach erfolgen, ob es gleich einer Waffe zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken eingesetzt wird (so noch BGH, 22. Februar 1978 – 2 StR 372/77; juris; BGH, 23. Dezember 1986 – 1 StR 598/86). Vielmehr ist auch bei ärztlichen Instrumenten (wie z. B. Instrumenten zur Zahnextraktion) danach zu fragen, ob der Gegenstand aufgrund seiner objektiven Beschaffenheit und der Verwendung im konkreten Fall dazu geeignet ist, dem Opfer erhebliche Verletzungen beizubringen (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 224 Rn. 14; Münchner Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2021, § 224 Rn. 50; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30 Aufl. 2019, § 224 Rn. 8; Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2018, § 224 Rn. 22).

Dies ist nach Auffassung des Oberlandesgerichts Karlsruhe der Fall. Zwar werden Schmerzen während der Extraktion eines Zahnes mittels der dafür vorgesehenen zahnärztlichen Instrumente aufgrund einer örtlichen Betäubung nicht oder kaum verspürt. Die vom Zahnarzt in diesem Fall vorsätzlich ohne medizinische Indikation zur Zahnextraktion verwendeten Instrumente (namentlich die verwendete Extraktionszange) führten aber unmittelbar nach dem Eingriff aber nach Trennung der Verbindung zum versorgenden Nerv zu dem unwiederbringlichen Verlust eines Teils des Gebisses sowie zu einer – jedenfalls für die Dauer einiger Tage – offenen Wunde im Mundraum der Patienten.

Derartige Eingriffe sind nach Abklingen der lokalen Narkose regelmäßig mit nicht unerheblichen Schmerzen, Beschwerden bei der Nahrungsaufnahme und der Gefahr von Entzündungen verbunden, welche nur durch Einnahme von Tabletten und oralhygienische Maßnahmen gemindert werden können – insbesondere dann, wenn wie vorliegend nacheinander mehrere Zähne entfernt werden (in den konkreten Fällen: von drei bis zu sieben Zähnen).

Von sowohl nach ihrer Intensität als auch ihrer Dauer gravierenden Verletzungen im Mundraum der Patienten ist daher auszugehen (vgl. auch BeckOK StGB/Eschelbach StGB, 52. Ed. 01.02.2022, § 224 Rn. 28, 28.4), weshalb in den genannten Fällen der Qualifikationstatbestand des § 224 Abs. 1 Ziff. 2 StGB erfüllt ist (aA bei Extraktion eines Zahnes Schönke/Schröder, aaO, § 224 Rn. 8).

Keine Rolle bei der Einordnung der verwendeten Instrumente als gefährliche Werkzeuge i.S.v. § 224 Abs. 1 Ziff. 2 StGB spielt der Umstand, dass der Angeklagte als (damals) approbierter Zahnarzt zu deren regelgerechter Anwendung grundsätzlich in der Lage war und sie auch regelgerecht angewandt hat.

OLG Karlsruhe, 16.03.2022 – 1 Ws 47/22