Medizin

Mangelernährung: Unbeachtet, unbehandelt, gefährlich – und in der Klinik wird es nicht besser

Mangelernährung – damit verbinden viele Menschen Zustände in Entwicklungsländern. Tatsächlich aber ist Mangelernährung auch in Deutschland weit verbreitet. Jede vierte bis fünfte Person, die hierzulande in eine Klinik aufgenommen wird, ist mangelernährt. Meist sind alte Menschen, Krebserkrankte oder Patient*innen mit bestimmten gastroenterologischen Erkrankungen betroffen. Mangelernährung wirkt sich negativ auf die Prognose einer Erkrankung aus, erhöht Komplikationsraten, Liegezeiten und in der Konsequenz auch die Kosten. Dennoch werden in Deutschland Patienten*innen bei Krankenhausaufnahme weder systematisch auf das Vorliegen einer Mangelernährung untersucht, noch sind in Kliniken standardmäßig Ernährungsteams verfügbar. Schlimmer noch: Das Essen in Kliniken verschärft das Problem zusätzlich.

Die Ursachen für Mangelernährung sind vielfältig: Sehr alte oder schwer kranke Menschen leiden häufig unter Appetitlosigkeit. Auch degenerative Erkrankungen wie Demenz sind ein Grund für unzureichende oder einseitige Nahrungsaufnahme. In Senioreneinrichtungen fehlt meist das Personal, um kognitiv oder körperlich eingeschränkte Menschen beim Essen zu unterstützen.

„Werden diese Betroffenen mit einer Erkrankung in eine Klinik eingeliefert, so wird die Mangelernährung hierzulande nicht etwa regelhaft als wichtiger Faktor für die Prognose mitbehandelt – sondern sie bleibt oft unbeachtet und wird durch das Essensangebot und die Abläufe in den Kliniken noch verschärft“, sagt PD Dr. med. Birgit Terjung, Chefärztin der Inneren Medizin/Gastroenterologie der GFO-Kliniken Bonn. Klinikessen ist meist kostengünstig, keimarm und wenig schmackhaft – und wird von vielen Patient*innen verschmäht. Dem NutritionDay 2018 zufolge, einer weltweiten, jährlich stattfindenden systematischen Erhebung mit Daten aus Krankenhausstationen und Pflegeeinrichtungen, nahmen nur rund ein Drittel der Patient*innen die vollständige Mittagsmahlzeit zu sich. Und auch in Kliniken fehlt Personal, um hilfsbedürftige Patient*innen bei der Nahrungsaufnahme zu unterstützen.

Dabei hat die Mangelernährung leidvolle und teure Folgen: Betroffene haben ein höheres Risiko für Komplikationen wie Infektionen oder Druckgeschwüre. Dadurch verlängert sich die Klinik-Verweildauer bei mangelernährten Patient*innen Studien zufolge um 2,4 bis hin zu 7,2 Tagen. Auch die Wiedereinweisungsrate liegt höher. Die Folge: höhere Kosten pro Patient*in.

„Maßnahmen, um Mangelernährung zu vermeiden und zu behandeln – etwa durch hochwertigeres und auf die Bedürfnisse der Patient*innen angepasstes Klinikessen sowie geschultes Personal werden im DRG-System nicht angemessen vergütet und daher in Kliniken meist eingespart“, sagt Professor Dr. med. Thomas Frieling, Chefarzt der Medizinischen Klinik II am Helios Klinikum Krefeld. „Aber: Das Personal und die Kosten, die man an dieser Stelle spart, ziehen letztlich höhere Kosten durch Komplikationen und längere Behandlung nach sich – eine absurde und untragbare Situation.“

Experten*innen, die die Folgen der Mangelernährung täglich im Klinikalltag erleben, fordern deshalb konkrete Maßnahmen:

  • Strukturen zur regelhaften Erfassung des Ernährungsstatus von Patient*innen sollten in allen Kliniken Standard werden. Orientierung kann dabei das sogenannte „Krefelder Modell“ geben, bei dem die Sensibilisierung und Schulung von Mitarbeitenden (Bottom-up-Strategie) mit verpflichtenden Dienstanweisungen (Top-Down-Strategie) kombiniert werden.
  • Es braucht eine breitere Verfügbarkeit von ernährungsmedizinisch geschultem Personal. Dem 14. DGE-Ernährungsbericht (2018) zufolge verfügen nur zehn Prozent der deutschen Kliniken und 30 Prozent der Pflegeheime über eine auf Station verfügbare Diätassistenz, in anderen teilnehmenden Ländern Europas waren es 63 beziehungsweise 86 Prozent. Ein Ernährungsteam oder eine Ansprechperson für Ernährung gab es in 58 Prozent der Kliniken und 45 Prozent der teilnehmenden Wohnbereiche in Pflegeheimen in Deutschland, in Europa waren es 82 beziehungsweise 71 Prozent.
  • Die Vermeidung und Behandlung von Mangelernährung – unter anderem durch hochwertiges Klinikessen und ernährungsmedizinisch geschultes Personal – muss im Vergütungssystem des Gesundheitssystems endlich angemessen berücksichtigt werden.

„Es ist aktuell vielen Expert*innen in der Gesundheitspolitik noch nicht klar, dass Ernährungstherapie auf einfache und kostengünstige Weise Leben retten, Leid reduzieren und immense Kosten im Gesundheitswesen einsparen könnte“, so Frieling. Terjung ergänzt: „Fachgesellschaften weisen seit Jahren auf die Problematik hin, die sich durch das unbeachtete und unbehandelte Problem der Mangelernährung ergibt – hier braucht es jetzt endlich Maßnahmen. Andere europäische Länder sind uns weit voraus.“

  • Mitteilung der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) vom 30.08.2022
  • Deutsche Gesellschaft für Ernährung (Hrsg.). 14. DGE-Ernährungsbericht –Kapitel 2. Bonn (2019);  https://www.dge.de/14-dge-eb/vvoe/kap2 
  • Khalatbari-Soltani S, Marques-Vidal P. The economic cost of hospital malnutrition in Europe; a narrative review. Clin Nutr ESPEN 2015; 10(3): e89-e94
  • Frieling T et al. Optimierung des Screenings auf Mangelernährung im Krankenhaus durch „Bottum-up“- und „Top-down“-Strategien – das Krefelder Projekt. Akt. Ernährungsmed. 2013;38:296-301

Mangelernährung ist auch ein Thema der „Viszeralmedizin 2022“, die vom 12. bis 17. September 2022 stattfindet. Weitere Informationen unter www.viszeralmedizin.com.