Gesundheitspolitik

Wissenschaft als Kostenbremse – über Kosten und Nutzen im Gesundheitswesen

Unser Gesundheitssystem steht am Pranger, die Kosten steigen stetig, trotz aller politischen Bemühungen, offenbar unaufhaltsam an. Aber immerhin, unsere persönlichen Erlebnisse mit der medizinischen Versorgung sind, insbesondere, wenn wir ernsthaft krank sind, doch überwiegend positiv. Auch teure Therapien werden, wenn ihr Nutzen erwiesen ist, von den Krankenkassen finanziert. Im Notfall werde ich immer schnellstmöglich versorgt. Aber, ist alles notwendig in der Medizin, was heute landauf, landab getan wird? Was brauchen wir wirklich an Diagnostik und Therapie, um länger und besser zu leben?

von Prof. Dr. med. Georg Ertl, Internist und Kardiologe am Universitätsklinikum Würzburg, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin

Es gibt eine Hochrechnung für die USA1), dass die Kosten für Verschwendung, also Aufwendungen, die nicht in besserer Patientenversorgung münden, sich auf 760 bis 935 Milliarden Dollar belaufen, das wären circa 25 Prozent der gesamten Ausgaben im Gesundheitssystem. Es werden sechs Domänen für Verschwendung identifiziert: Ineffizienz der Kliniken und Praxen (1), unnötige Arztkontakte und Klinikaufenthalte (2), Überversorgung mit nicht evidenzbasierter Diagnostik und Therapie und Unterversorgung mit präventiven Maßnahmen (3), zu hohe Preise (4), Betrug und Missbrauch (5), Verschwendung in der Administration durch Bürokratie (6).

Die Studie ist sicher nicht auf die deutschen Verhältnisse zu übertragen, aber die Punkte 1 bis 3 und wahrscheinlich auch 6 dürften auch in unserem Gesundheitssystem eine gewichtige Rolle spielen.

Es werden eine Reihe von konkreten Maßnahmen vorgeschlagen, die in der Summe 191 bis 286 Milliarden Dollar einsparen sollen. Dies ist auch Ansatzpunkt für die geplanten gesetzgeberischen Maßnahmen, die eine ökonomisch getriebene Inflation medizinischer Leistungen abbauen will. Ein Schwerpunkt der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) und der internistischen Schwerpunktgesellschaften liegt daher in der Kampagne für „Klug Entscheiden“ (Choosing Wisely®) die sich medizinisch-wissenschaftlich gegen Überversorgung mit nicht evidenzbasierter Diagnostik und Therapie und Unterversorgung mit präventiven Maßnahmen (3) richtet. Und, unnötige Diagnostik und Therapie kann letztlich auch schädlich für Patientinnen und Patienten sein.

Hier handelt es sich um eine Kernaufgabe für die DGIM als eine wissenschaftliche Fachgesellschaft, Umsetzung von Wissenschaft in die praktische Versorgung. Die zuständige Kommission der DGIM schreibt Listen von Prozeduren fort, bei deren Indikation Ärztinnen und Ärzte „zweimal nachdenken“ sollten, bevor sie diese durchführen oder verordnen.

Choosing Wisely® und die Veröffentlichung und Propagierung solcher Listen (demnächst wieder im Deutschen Ärzteblatt) hat allerdings weltweit bisher nicht zu wesentlichen Einsparungen an medizinischen Leistungen geführt, da sie nicht verpflichtend in die Gesundheitssysteme eingeführt sind.2) Eine beispielhafte Ausnahme ist die kanadische „Using Blood Wisely“ Kampagne, an der sich 159 Kliniken und Klinikkonsortien beteiligen3). Vielleicht braucht es auch eine „Choosing Wisely Stewardship“. Die Antibiotic Stewardship hat am Universitätsklinikum Würzburg innerhalb von 5 Jahren zu einer Reduktion des Antibiotikaverbrauchs um 17 Prozent geführt.

Digitale Lösungen sind vielversprechend, allerdings derzeit nicht sehr wirkungsvoll bei der Umsetzung empfohlener medizinischer Versorgung.4) In der Primär und Sekundärprävention der Manifestation oder Verschlimmerung von Krankheiten, aber auch in der Vermeidung unnötiger Arztkontakte und Krankenhausaufenthalte können sie allerdings wesentlich unterstützen. Ein gutes Beispiel ist die Herzinsuffizienz, einer der häufigsten Gründe für eine Krankenhausaufnahme in Deutschland. Eine kürzlich publizierte Metaanalyse, in die auch unsere eigenen Studien eingegangen sind, hat gezeigt, dass ein häusliches Monitoring, mit unterschiedlichen, heute ideal digital zu unterstützenden Methoden, die Krankenhauseinweisungen um im Mittel 15 Prozent reduzieren kann.5,6,7)

[!] Die Reform unseres Gesundheitssystems braucht vielfältige Maßnahmen, um bei gleicher oder besserer Qualität der medizinischen Versorgung die Kosten im Rahmen zu halten. Rein ökonomische Überlegungen und Maßnahmen greifen zu kurz und versuchen den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Das Primat der Steuerung muss bei der medizinischen Wissenschaft und deren Steuerelementen liegen, wissenschaftliche Evidenz und Versorgungsforschung kann Ressourcen sparen, wenn wir gutes Geld für „Klug Entscheiden“ ausgeben.

Eröffnungs-Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e.V. (DGIM) anlässlich des 130. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, 13. April 2024

Literatur:
1) JAMA 2019;322(15):1501-1509. DOI: 10.1001/jama.2019.13978
2) J Hosp Med 2023;18:78–81. DOI: 10.1002/jhm.12969
3) BMJ Open Qual. 2024 3;13(2):e002660. DOI: 10.1136/bmjoq-2023-002660
4) BMJ 2020; 17:370:m3216. DOI: 10.1136/bmj.m3216
5) Eur Heart J 2023; 44: 2911–2926. DOI: org/10.1093/eurheartj/ehad280
6) Eur J Heart Fail 2020; 22: 1891–1901. DOI: org/10.1002/ejhf.1943
7) Circ Heart Fail 2012; 5: 25-35. DOI: org/10.1161/CIRCHEARTFAILURE.111.962969