Zunahme von Medikamenten-Engpässen in der Augenheilkunde
Die Liefer- und Versorgungsengpässe von Medikamenten und Medizinprodukten sind in den vergangenen Jahren in Deutschland angestiegen, auch in der Ophthalmologie. Medikamente für wichtige Behandlungen können teils nur verspätet oder vereinzelt auch gar nicht geliefert werden, kritisieren Expert*innen der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG). Die Folgen sind erhöhte Kosten, eine verzögerte Behandlung und teilweise ernsthafte Verschlechterungen des Gesundheitszustandes. Gründe für die Engpässe sind Verlagerungen der Medikamentenproduktion ins Ausland sowie pandemiebedingte Probleme der Produktion und Lieferketten. Die DOG fordert eine verstärkte Eigenproduktion von Medikamenten in Deutschland und Europa.
„In den zurückliegenden Jahren haben die Engpässe in der Versorgung mit Medikamenten und Medizinprodukten auf beunruhigende Art und Weise zugenommen, auch wenn es bisher nur vergleichsweise seltene Augenerkrankungen betrifft“, sagt Professor Dr. med. Martina Herwig-Carl, Oberärztin der Universitäts-Augenklinik Bonn. Die Corona-Pandemie habe die Probleme noch weiter verschärft: „Wir erleben in der Ophthalmologie sowohl Lieferengpässe als auch vollkommene Produktionsstopps von Medikamenten.“ Da das Ausweichen auf Alternativpräparate im ophthalmologischen Bereich oft nicht möglich ist, bestünden große Abhängigkeiten.
Keine geeigneten Alternativen verfügbar
Besonders betroffen sind Patienten mit Tumorerkrankungen des Auges, da beispielsweise die Produktion von Interferon α2b eingestellt wurde. Die Arznei wurde in Form von Augentropfen bei Vorstufen des schwarzen Hautkrebs der Bindehaut (Konjunktivale intraepitheliale melanozytäre Läsionen, CMIL) eingesetzt. „Werden diese Gewebeveränderungen unzureichend therapiert, kommt es im schlimmsten Fall zu einem Bindehautmelanom mit Metastasierungspotential“, erläutert die DOG-Expertin. Als Alternative stehen Mitomycin C (MMC) und 5-Fluorouracil (5-FU) bereit, doch sind diese Mittel deutlich schlechter verträglich und auch für den letztgenannten Wirkstoff gab es bereits Lieferengpässe.
„Schwer wiegt auch der Produktionsstopp von Mitteln zur Förderung der Wundheilung bei chronischen Hornhautgeschwüren. Hier sind mehrere Präparate nicht mehr in Deutschland verfügbar und gleichzeitig alternativlos“, fügt die Bonner Augenärztin hinzu. Ein Mittel könne nur noch über Auslandsapotheken für Kosten im hohen fünfstelligen Euro-Bereich bezogen werden. Gravierend sind auch Probleme, die durch den Lieferengpass des Wirkstoffs Verteporfin entstehen, der für die Photodynamische Therapie von Netzhauterkrankungen benötigt wird. „Eine Nicht-Behandlung führt zum Ausbleiben einer Sehverbesserung“, betont Herwig-Carl.
Lieferengpässe gab es zwischenzeitlich auch bei den Augentropfen Scopolamin, die für die therapeutische Weitstellung der Pupillen bei intraokulären Entzündungen sehr wichtig sind. „Als Alternative stehen nur schwächer und nicht so lang wirkende Tropfen zur Verfügung“, bedauert die DOG-Expertin. Nur über wenige Apotheken, teils Auslandsapotheken, zu beziehen sind Arzneien zur Behandlung der Akanthamöbenkeratitis – einer schweren Hornhautentzündung, die meist Kontaktlinsenträger*innen befällt.
Zertifizierungsaufwand bedingt Mangel an Medizinprodukten
Darüber hinaus sind auch manche Medizinprodukte knapp, ergänzt Professor Dr. med. Gerd Geerling, Direktor der Universitäts-Augenklinik Düsseldorf und Präsident der DOG: „Verschiedene Speziallinsen zur Implantation in das Auge nach Entfernung der körpereigenen getrübten Linse beim grauen Star sind momentan wegen einer Änderung im Medizinproduktegesetz nicht mehr verfügbar. Grund hierfür ist die neue EU-Verordnung 2020/561, die seit Mai 2021 gilt.“ Diese Gesetzesnovelle hat die Durchführung des Konformitätsbewertungsverfahrens von staatlichen Instanzen auf die Hersteller verlagert; bei sterilen oder Produkten mit Messfunktion ist zusätzlich eine Zertifizierung durch private oder staatliche Prüfstellen erforderlich.
„Ziel war es, die staatliche Regulation zu minimieren, was jedoch zu einem erhöhten Zertifizierungsaufwand für Nischenprodukte führte“, so Geerling. In der Folge wurden viele Produkte vom Markt genommen. Besonders schwerwiegend trifft es Menschen, die etwa durch eine schwere Hornhauterkrankung beidseits erblindet sind und denen mit einer natürlichen Hornhauttransplantation nicht, aber mit einer besonderen Form der künstlichen Hornhaut – einer Keratoprothese – geholfen werden kann. „Da diese Implantate nicht mehr verfügbar sind, müssen die Patienten in Blindheit ohne Aussicht auf Besserung leben“, konstatiert Geerling.
Lieferengpässe sind meist schlecht absehbar
Allgemein gilt es, zwischen Lieferengpässen und Versorgungsengpässen zu unterscheiden. Laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukten (BfArM) ist ein Lieferengpass eine voraussichtlich mehr als zwei Wochen dauernde Unterbrechung der Auslieferung der üblichen Menge oder eine deutlich gestiegene Nachfrage, die nicht bedient werden kann. „Allerdings ist die Dauer von Lieferengpässen meist ungewiss, und oft werden sie nicht im Vorhinein kommuniziert“, berichtet Herwig-Carl. Von einem Versorgungsengpass spricht man, wenn nicht lieferbare Arzneimittel versorgungsrelevant sind und für die Therapie keine Alternativpräparate zur Verfügung stehen.
Die Ursachen für Probleme bei der Medikamentenversorgung sind vielschichtig. „Grundlegend sind hier jedoch vier zu nennen“, sagt Herwig-Carl. Entweder treten vorübergehende Lieferengpässe auf, Produkte werden gänzlich eingestellt, sind in Deutschland nicht zu beziehen oder die Medikamente werden von Apotheken selbst hergestellt und sind daher nicht flächendeckend verfügbar. Gründe für Lieferengpässe können der Ausfall von Zulieferern, ein Mangel durch Probleme mit der Qualität, eine Umstellung der Herstellungsprozesse, Rohstoffknappheit oder eine gesteigerte Nachfrage sein.
Versorgung durch Eigenproduktion sicherstellen
„Eine vermehrte Eigenproduktion von Medikamenten und Medizinprodukten in Deutschland oder zumindest Europa ist unerlässlich, gerade wenn es sich um seltene oder schwerwiegende Erkrankungen handelt, die in einem kommerzialisierten Medizin-Betrieb keine Priorität genießen“, schlussfolgert DOG-Präsident Geerling. „Nur so kann die notwendige Versorgung für Patientinnen und Patienten in der Augenheilkunde in Zukunft gewährleistet werden.“
Die DOG ist die medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft für Augenheilkunde in Deutschland. Sie vereint unter ihrem Dach mehr als 8.000 Mitglieder, die augenheilkundlich forschen, lehren und behandeln.