Recht

BGH: Patient muss bei einer Haftungsklage kein medizinisches Fachwissen vortragen

Ein Patient muss im Arzthaftungsprozess den Vorwurf, der Arzt habe einen Behandlungsfehler begangen, nicht mit medizinischem Fachwissen unterfüttern. Dies hat der Bundesgerichtshof in einem aktuellen Fall entschieden ( Beschluss vom 1.3.2016, Az. VI ZR 49/15). Das bedeutet: Im Arzthaftungsprozess werden niedrigere Anforderungen an den Patienten gestellt als bei den meisten sonstigen Prozessen. |

von Dr. Rainer Hellweg, Fachanwalt für Medizinrecht, armedis Rechtsanwälte, Hannover, www.armedis.de

Patientin: Infektion lässt auf Behandlungsfehler schließen

In dem vom BGH entschiedenen Fall war eine knapp 60-jährige Patientin mehrfach gestürzt und wurde danach in zwei verschiedenen Kliniken operiert. Dabei wechselte man u. a. eine Endoprothese. Intraoperativ entnommene Abstriche ergaben eine bakterielle Besiedelung mit Enterokokken und Staphylokokken. Die Patientin verklagte beide Kliniken mit der Begründung, die „tiefe Infektion“ lasse auf ein behandlungsfehlerhaftes Vorgehen schließen.

Vor dem Landgericht argumentierte die Patientenseite zunächst noch sehr pauschal: Bei den OPs seien Hygienestandards nicht eingehalten worden. Erst in zweiter Instanz vor dem Oberlandesgericht (OLG) Saarbrücken konkretisierte die Patientin ihren Vortrag: Das Wunddebridement sei nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Diese Konkretisierung betrachtete das OLG als verspätet und wollte diesen Einwand der Patientin nicht mehr gelten lassen; die Patientin habe ihn schon in erster Instanz vortragen müssen.

Die Entscheidung

Der BGH hingegen urteilte, die Konkretisierung sei rechtzeitig erfolgt. Er hob das Urteil des OLG Saarbrücken auf, da es eine zu detaillierte Darlegung der Patientin verlangt habe. Diese sei nicht verpflichtet, sich zur Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen. Vom Patienten könnten in der Regel keine genauen Kenntnisse der medizinischen Vorgänge erwartet werden. Daher sei die Patientin nicht verpflichtet gewesen, mögliche Entstehungsursachen einer Infektion zu ermitteln und vorzutragen. Das OLG muss nun die Sache neu verhandeln und dabei einen Sachverständigen heranziehen.

Der rechtliche Hintergrund: Die Gerichte schützen den Patienten im Prozess.

Im Arzthaftungsrecht ist der zivilrechtliche Grundsatz durchbrochen, wonach der Geschädigte detailliert darlegen muss, wann, wie und durch wen die Schädigung erfolgte und inwiefern dies den eingetretenen Schaden verursacht hat. Der Grund: die „Waffengleichheit“ im Prozess. Im Gegensatz zum Arzt kann vom Patienten nicht verlangt werden, eine genaue medizinische Begründung z. B. für die Vermutung eines Behandlungsfehlers zu liefern.

Kritik an der Rechtsprechung des BGH

Insbesondere Anwälte, die Ärzte vertreten, sehen den Beschluss des BGH kritisch. Doch während der BGH von Patienten zumindest fordert, dass deren Tatsachenvortrag in groben Zügen erkennen lässt, welches ärztliche Verhalten fehlerhaft gewesen sein soll, sind erstinstanzliche Gerichte bisweilen sogar noch großzügiger: Ihnen reicht es häufig aus, wenn der Patient in der Klageschrift nur halbwegs konkret die erfolgte medizinische Behandlung schildert und behauptet, diese sei fehlerhaft erfolgt, weshalb er jetzt Schmerzen habe oder anders beeinträchtigt sei.

Der Patient muss nach dieser Gerichtspraxis also überhaupt nicht mehr genau darlegen, welche ärztliche Maßnahme oder welches Unterlassen genau einen Behandlungsfehler begründet und wie sich dies kausal auf den weiteren Behandlungsverlauf ausgewirkt haben soll.

„Wer suchet, der findet“

Konsequenz für den Arzt: Die Beweisaufnahme läuft tendenziell offener ab. Der vom Gericht bestellte Sachverständige wird dann umfassend dazu befragt, welche Einzelmaßnahmen im Rahmen der ärztlichen Behandlung fehlerhaft gewesen sein könnten. Gemäß dem Sprichwort „Wer suchet, der findet“ kann der Gutachter bei einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt einen Teilaspekt oder eine Einzelmaßnahme herausgreifen, die er als kritikfähig erachtet. Dabei ist es nicht einmal mehr erforderlich, dass der Patient diesen Umstand zuvor konkret erwähnt hatte.

PRAXISHINWEIS | Als Oberarzt sollten Sie darauf achten, dass der Sachverhalt der Haftpflichtversicherung gemeldet wird, sobald ein Patient außergerichtlich Ansprüche stellt. Stimmen Sie dies aber zuvor mit der Klinikleitung und dem Chefarzt ab! Sonst besteht das Risiko, dass die Haftpflichtversicherung im Nachhinein die Deckungszusage verweigert. Vermeiden Sie es also, ohne Abstimmung von sich aus auf das Schreiben des Patienten oder seinem Rechtsanwalt zu antworten – ansonsten könnten Sie aufgrund juristischer Unkenntnis Aussagen treffen, die Ihnen in einem nachfolgenden Prozess „auf die Füße fallen“.

 

Patienten gewinnen ein Drittel der Prozesse um Behandlungsfehler

In Deutschland werden nach der Praxis der Schlichtungsstellen und Gerichte letztlich ca. ein Drittel der von Patienten eingereichten Fälle als Behandlungsfehler anerkannt. Umgekehrt heißt dies: In rund zwei Drittel der Fälle gewinnt im Ergebnis die Arztseite den Rechtsstreit.

FAZIT | Der Beschluss des BGH und die teils noch „laxere“ Vorgehensweise der erstinstanzlichen Gerichte werden zu Recht kritisiert. Trotzdem muss der Oberarzt wissen: Der Patient kann eine in einem ersten Schreiben vorgebrachte unspezifische Behauptung, der Arzt habe ihn nicht gut behandelt bzw. Fehler gemacht, im Nachhinein jederzeit noch konkretisieren. Da im Prozess manchmal der komplette Behandlungsverlauf aufgerollt wird, sollte der Oberarzt den gesamten Behandlungsfall im Blick haben, sobald sich ein Patient oder dessen Rechtsanwalt mit entsprechenden Vorwürfen meldet.