Recht

Trotz Krankschreibung: Chefarzt darf 10 Stunden Zug fahren

Eine zu Beginn der Erkrankung angetretene rund 10-stündige Bahnfahrt eines Chefarztes zum Familienwohnsitz, um dort die Hausärztin aufzusuchen, lässt ohne Hinzutreten weiterer Umstände eine attestierte Arbeitsunfähigkeit nicht fragwürdig erscheinen.

Der Facharzt war Chefarzt für die orthopädische Abteilung einer Reha-Klinik in Mecklenburg-Vorpommern. Er unterhielt eine Zweitwohnung in der Nähe der Arbeitsstätte; der Familienwohnsitz befindet sich annähernd 1000 km entfernt in Süddeutschland. Nach seiner Kündigung durch den Arbeitgeber Kündigung war der Arzt mehrfach arbeitsunfähig. Zuletzt meldete er sich krank und fuhr mit der Bahn rund zehn Stunden zu seinem Familienwohnsitz in Süddeutschland. Am Tag darauf stellte die behandelnde Ärztin dem Arzt eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus. Nach Ablauf der Krankschreibung trat der Arzt seinen bereits zuvor abgestimmten Resturlaub an. Zehn Tage später nahm er in einer anderen Reha-Klinik eine neue Beschäftigung als Oberarzt auf.

Sein alter Arbeitgeber weigerte sich, für die Dauer der Krankschreibung Lohnfortzahlung zu leisten – wenn er krank gewesen wäre, hätte er nicht 10 Stunden zu seinem Familienwohnsitz fahren können. Auffällig sei auch das pünktliche Ende der Erkrankung zum Beginn des Urlaubs.

Das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern entschied: Die rund 10-stündige Bahnreise des Klägers wecke unter Berücksichtigung der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung keine Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Die Belastung durch die Bahnreise sei nicht annähernd mit derjenigen einer Chefarzttätigkeit vergleichbar. Eine Bahnreise erfordert weder Konzentration noch körperliche Anstrengungen. Im Zug besteht die Möglichkeit, eine entspannte Körperhaltung einzunehmen und sich bei Bedarf etwas zu bewegen. Auch unter Berücksichtigung der vom Kläger offengelegten Krankheitsdiagnosen (Hypertonie bis 220mmHg, Kopfschmerzen, HWS-Syndrom, Myogelosen) bestand kein Grund, eine längere Bahnfahrt unbedingt zu vermeiden, um den Gesundheitszustand nicht weiter zu verschlechtern. Die Art der Erkrankung erforderte es nicht, umgehend einen Notarzt oder eine Klinik aufzusuchen. Soweit der Kläger zu seinem Familienwohnsitz gereist ist, um dort die Hausärztin aufzusuchen, erscheint das im Sinne einer schnellen Genesung durchaus nachvollziehbar.

[!]Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist – so das Landesarbeitsgericht – nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist betrifft. Krankheiten können auch in einem gekündigten oder einem aus anderen Gründen endenden Arbeitsverhältnis auftreten. In der Ablösungsphase mag zwar die Motivation eines Arbeitnehmers nachlassen. Daraus ist aber keinesfalls zu schließen, dass jede Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in diesem Zeitraum makelbehaftet ist und die Arbeitsunfähigkeit vom Arbeitnehmer durch Offenlegung seiner Erkrankung, der gesundheitlichen Einschränkungen und der ärztlich verordneten Behandlung zu belegen ist.

Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern, 13.07.2023 – 5 Sa 1/23