Remonstration: Die Pflicht zum fachlichen Widerspruch
Verstößt ein von einem vorgesetzten Arzt angeordnetes Vorgehen in der konkreten Behandlungssituation gegen medizinisches Basiswissen und begründet es erkennbar erhöhte Risiken, aber keine Vorteile für den Patienten, so sind nachgeordnete Ärzte verpflichtet, dieses Vorgehen kritisch zu hinterfragen (sog. Remonstrationspflicht).
Andernfalls haften sie persönlich. Im Falle eines groben Behandlungsfehlers und der damit verbundenen Beweislastumkehr können sie sich nicht darauf berufen, auf Anordnung des vorgesetzten Arztes gehandelt zu haben.
Der Fall
Die Patientin stellte sich auf Überweisung ihrer Gynäkologin ambulant in der Klinik vor. Dort wurde bei ihr eine Hypermenorrhoe bei bekanntem Uterus myomatosus diagnostiziert. Es wurde eine ambulante Hysteroskopie mit fraktionierter Abrasio vereinbart. Die wurde Patientin von einer Oberärztin der Gynäkologie und einer Assistenzärztin operiert. Der Eingriff umfasste zunächst eine Ausschabung des Gebärmutterhalses, gefolgt von mehreren Einführungen des Hysteroskops. Die Beklagten verwendeten ein monopolares Resektoskop, um einen vorhandenen Polypen vollständig zu entfernen. Als Spülflüssigkeit verwendeten sie etwa 2,5 Liter destilliertes Wasser.
Gegen 11:30 Uhr trat bei der Patientin eine Asystolie auf, die eine 25-minütige kardiopulmonale Reanimation durch das Anästhesieteam erforderlich machte. Nach Stabilisierung um 11:55 Uhr wurde die Patientin intubiert und zur weiteren Behandlung auf die interdisziplinäre Intensivstation verlegt. Um 12:35 Uhr wurde wegen des Verdachts auf eine intraabdominelle Blutung eine Laparotomie durchgeführt, bei der ca. 1,5 Liter nicht geronnenes Blut aus der Bauchhöhle abgesaugt wurden; eine Uterusperforation konnte jedoch nicht festgestellt werden. Stattdessen zeigte sich eine Blutung am Ligamentum falciforme hepatis mit oberflächlicher Ruptur der Leberkapsel. Das Ligament wurde reseziert und die Blutung an der Leberoberfläche gestillt.
Anschließend wurde die Patientin aufgrund der Reanimationsmaßnahmen prophylaktisch gekühlt und intensivmedizinisch weiterbehandelt. Da sich ein Hirnödem entwickelt hatte, wurde eine Therapie zur Hirndrucksenkung eingeleitet. Trotz neurochirurgischer und neurologischer Untersuchung wurde auf eine Verlegung in ein Krankenhaus der Maximalversorgung verzichtet. Die Patientin verstarb an einem protrahierten Schock und Multiorganversagen, ohne seit Einleitung der Narkose jemals wieder das Bewusstsein erlangt zu haben.
Die Behandlungsfehler
Den Ärztinnen wurden mehrere Behandlungsfehler vorgeworfen: Die Verwendung des eingesetzten monopolaren Resektoskops stelle eine veraltete Operationstechnik dar. Außerdem sei als Distensionsmedium fehlerhaft destilliertes Wasser in den Blutkreislauf der Patientin eingebracht worden, was eine Hämolyse mit schwerwiegenden Folgen zur Folge gehabt habe. Zusätzlich sei es zu einer Lufteinschwemmung in den Gefäßkreislauf gekommen, was eine Luftembolie verursacht habe. Darüber wurde gerügt, dass grob fehlerhaft weder eine Volumenbilanzierung noch eine Druckbegrenzung durchgeführt worden sei. Die Operationsdauer sei zudem außergewöhnlich lang gewesen und die Assistenzärztin habe nicht über die nötige Kompetenz verfügt.
Das Landgericht hatte aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. I. es als grob behandlungsfehlerhaft bewertet, dass die Beklagten bei der diagnostischen Hysteroskopie unter Nutzung eines monopolaren Resektoskops mit anschließender Ausschabung destilliertes Wasser benutzt haben. Bei einer lediglich diagnostischen Hysteroskopie hätte eine isotonische Lösung, z.B. Kochsalzlösung, verwendet werden können, wohingegen bei einer operativen Hysteroskopie, die hier allerdings nicht vorgenommen werden sollte, die Wahl eines elektrolytfreien Mediums, z.B. Glycin, Purisol oder Manitol richtig gewesen wäre. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass die Verwendung von destilliertem Wasser als Distensionsmedium grob fehlerhaft gewesen sei, da Wasser im Blutkreislauf eine lebensgefährliche Hämolyse auslösen könne. Es gehöre zum Basiswissen, dass man Wasser nicht spritzen dürfe und dass dieses nicht in die Blutbahn gelangen dürfe. Schon der Medizinstudent lerne, dass auf keinen Fall Wasser in die Blutbahn gelangen dürfe, sodass er die Verwendung für unverständlich halte. Die Verwendung einer hypotonen und elektrolytfreien Spüllösung sei nur dann erforderlich gewesen, wenn das mit monopolarem Strom betriebene Resektoskop operativ verwendet worden wäre und es auf eine ordnungsgemäße Ableitung des Stroms angekommen wäre. In diesem Falle hätte aber statt destilliertem Wassers eine hypotone Lösung, so z.B. Purisol, verwendet werden müssen. Aufgrund der bereits einem Studenten bekannten Gefährlichkeit der Nutzung von destilliertem Wasser und der Tatsache, dass eine hypotone Lösung für die diagnostische Hysteroskopie nicht erforderlich war, sondern hier vielmehr ein zusätzliches Risiko ohne dem gegenüberstehenden Vorteil für die Patientin gesetzt wurde, hat die Kammer zutreffend einen groben Fehler, der objektiv unverständlich ist, angenommen.
Keine direkte Anordnung des Chefarztes – nur Informationen aus zweiter Hand
Die Oberärztin, die zum Zeitpunkt der Operation seit einem Monat Oberärztin war, konnte sich nicht auf eine für die Behandlungssituation maßgebliche Anweisung des Chefarztes Dr. F. berufen. Eine direkte Anweisung des Chefarztes bezüglich der Operation der Patientin hat die Oberärztin bereits selbst nicht behauptet. Sie hat lediglich in ihrer Anhörung angegeben, dass ihr die OP-Schwestern erklärt hätten, dass das operative Hysteroskop nach einer Absprache zwischen dem Chefarzt und der Leiterin des OP-Pflegepersonals im Hinblick auf die Vorgabe des Herstellers, keine salzhaltige Lösung zu verwenden, mit destilliertem Wasser benutzt werden sollte, da das Gerät sonst korrodiere. Die Oberärztin wusste aber ihrer Anhörung zufolge auch, dass in der Klinik bisher für diagnostische Zwecke das operative Hysteroskop nicht verwendet wurde und ansonsten für Eingriffe wie den streitgegenständlichen eine isotonische Lösung als Distensionsmittel verwendet wurde. Die aus zweiter Hand übermittelte Anweisung des Chefarztes konnte sich daher nicht auf die erstmalige Verwendung des monopolaren Resektoskops zu Diagnosezwecken beziehen, sondern lediglich auf den operativen Einsatz, in der es für die Verwendung des Resektoskops und die Eingehung der höheren Risiken durch die Verwendung einer hypotonen Lösung einen medizinischen Grund gab. Dies konnte die Oberärztin erkennen.
Es kann die Oberärztin auch nicht entlasten, dass der weitere Oberarzt Dr. K. das operative Hysteroskop zu Diagnosezwecken ausprobieren wollte. Gegenüber der Oberärztin war der weitere Oberarzt gleichgeordnet und konnte ihr keine verbindlichen Anordnungen erteilen. Die Oberärztin hatte ihren Angaben zufolge durchaus die Verwendung von destilliertem Wasser hinterfragt, als sie vor Beginn der Operation bemerkt hatte, dass eine Spüllösung vorbereitet war, mit der sie nicht gerechnet hatte. In einer Situation, in der jedenfalls Unsicherheit über das verwendete Distensionsmedium bestand, durfte die Oberärztin keine der bloßen Geräteerprobung dienende, risikoreichere Operation, durch die die Patientin keinen damit korrespondierenden Vorteil – etwa eine Polypenentfernung unter Sicht – hatte, beginnen.
[!] Selbst wenn von einer Anordnung des Chefarztes auszugehen wäre, lägen bezüglich der Oberärztin Anhaltspunkte vor, nach denen ein Vertrauen in die Anordnung nicht gerechtfertigt war, die für eine fehlerhafte Vorgehensweise sprachen und die eine Remonstrationspflicht begründeten. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Gefährlichkeit von destilliertem Wasser und insbesondere dessen Eindringen in die Blutbahn . Der Sachverständige hat im schriftlichen Gutachten weiter ausgeführt, dass die Ausschabung der Gebärmutter eine Wundfläche verursachte, durch die das Distensionsmedium noch einfacher in die Blutbahn eindringen konnte. |
Diese Gefahr musste und konnte der Oberärztin im Bereich der Gynäkologie und Geburtshilfe bekannt sein. Insbesondere angesichts der erstmaligen Verwendung des Resektoskops zu Diagnosezwecken, was für die Patientin zusätzliche Risiken, aber keine Vorteile erbrachte, hätte die Oberärztin ihre Remonstrationspflicht ausüben müssen. Sie hat diese nicht erfüllt. Sie hat die Verwendung von destilliertem Wasser nach ihrer Darstellung zwar gegenüber den Anwesenden zunächst als aus ihrer Sicht falsche Lösung angesprochen. Nach den ihr gegebenen Erklärungen hat sie aber nicht an ihren Bedenken festgehalten, diese nicht gegenüber dem Chefarzt als Urheber einer möglichen Anordnung geltend gemacht und nicht auf deren Änderung gedrungen. Es kommt hinzu, dass die Oberärztin nach ihren eigenen Angaben die Operation mit dem monopolarem Resektoskop begonnen hat, ohne sich vorher mit dem für sie neuen Gerät vertraut zu machen; ihr war nicht bekannt und sie hatte nicht überprüft, ob das Gerät eine Druckanzeige aufwies und ob der Druck regulierbar war.
Auch die Assistenzärztin ist haftbar
Auch die Assistenzärztin hat gegen die ihr obliegende Remonstrationspflicht verstoßen. Ihren Angaben zufolge hat die Oberärztin ihr mitgeteilt, dass der Oberarzt Dr. K. die Verwendung des operativen Hysteroskops mit Wasser als unbedenklich angesehen habe. Sie hat erklärt, dass sie es als ausreichend angesehen habe, dass der erfahrene Oberarzt keine Bedenken gehabt habe. Sie habe das, was der Oberarzt gesagt habe, wegen der Hierarchie auch nicht infrage gestellt.
Ausgehend davon, dass der Sachverständige die von destilliertem Wasser ausgehenden Gefahren als medizinisches Grundwissen bezeichnet und bewertet hat, insbesondere darauf hingewiesen hat, dass destilliertes Wasser nicht in die Blutbahn gelangen darf, während die Verwendung eines OP-Hysteroskops mit destilliertem Wasser für die geplante diagnostische Hysteroskopie schon nach der ständigen Praxis im Krankenhaus offensichtlich nicht erforderlich war, war die Assistenzärztin jedenfalls gehalten, fachliche Fragen hinsichtlich des Distensionsmediums aufzuwerfen. Dies sei der Assistenzärztin auch zumutbar gewesen, da sich aus ihrer Vernehmung ergebe, dass sie keine unmittelbare Anweisung des erfahrenen Oberarztes Dr. K. erhalten habe, sondern dessen Auffassung nur aus zweiter Hand von der Oberärztin erfahren habe. Eine Remonstration hätte dementsprechend gegenüber der Oberärztin erfolgen können und müssen, von der die Assistenzärztin wusste, dass auch sie eine derartige Operation noch nicht durchgeführt hatte, so dass ein Wissens- oder Erfahrungsvorsprung nicht oder nicht wesentlich bestand.
Hintergrund: Hierarchie und Remonstration
Ein Assistenzarzt darf auf die vom Facharzt angeordneten Maßnahmen vertrauen, sofern nicht für ihn erkennbare Umstände hervortreten, die ein solches Vertrauen nicht gerechtfertigt erscheinen lassen (OLG Frankfurt, Urteil vom 18.04.2006, Az. 8 U 107/05; OLG Köln VersR 1993,1157; OLG Zweibrücken VersR 2000,728; für den Arzt in Weiterbildung: OLG München, OLGR 1994, 13). Der nachgeordnete ärztliche Dienst ist in eine hierarchische Struktur eingebunden, die ihn auch haftungsrechtlich schützt und die, soweit er sich im Rahmen dieser Unterordnung bewegt, die deliktische Verantwortung einschränken kann. Bei der sogenannten vertikalen Arbeitsteilung ist der nachgeordnete Arzt an die Anweisungen des ihn leitenden Arztes gebunden. Der nachgeordnete Arzt haftet daher nur bei einem allein von ihm zu verantwortenden Verhalten, etwa, weil ihm eine Behandlung zur selbstständigen Ausführung überlassen wird, wenn er durch voreiliges Handeln einer ihm erteilten Anweisung der ärztlichen Leitung zuwider handelt, er pflichtwidrig eine gebotene Remonstration unterlässt oder ihm ein Übernahmeverschulden vorgehalten werden kann (OLG Zweibrücken, OLGR 2001, 315; OLGR 1999, 151; OLG Düsseldorf, VersR 2005, 230; OLG Celle, VersR 2002, 1558; für den Assistenz- oder Stationsarzt in Weiterbildung (Anfängerarzt): Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 6. Aufl., Kap. A Rn. 59; OLG Brandenburg Urt. v. 25.2.2010 – 12 U 60/09, BeckRS 2010, 8975). Diese Grundsätze gelten entsprechend für das Verhältnis zwischen Chefarzt und Oberarzt.
Oberlandesgericht Köln, 27.01.2025 – Az.5 U 69/24