Behandlungsfehler-Vorwürfe: Welche Ärzte trifft es am häufigsten?

von Dr. Rainer Hellweg, Fachanwalt für Medizinrecht, armedis, Hannover, www.armedis.de

Krankenhäuser und die dort tätigen Ärzte sehen sich deutlich häufiger als niedergelassene Ärzte Vorwürfen ausgesetzt, sie hätten einen Behandlungsfehler begangen. Bisher waren Ärzte in chirurgischen Fächern weit mehr betroffen als in konservativen Gebieten. Dieser Trend setzt sich fort, wie die aktuellen Zahlen von Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen belegen.

12.000 Fälle kommen vor die Schlichtungsstellen

Jährlich werden bundesweit ca. 12.000 vermutete Arzthaftungsfälle durch die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen bei den Ärztekammern bewertet. Den Antrag für eine solche Untersuchung stellen dabei die Patienten. Sie sind jedoch nicht verpflichtet, ein Schlichtungsverfahren durchzuführen, bevor sie Klage erheben. Auch besteht keine Pflicht, ganz auf die Klage zu verzichten und stattdessen eine Schlichterkommission anzurufen.

Ein – nicht rechtsverbindliches – Votum der Schlichtungsstelle wird nur dann erteilt, wenn sich zuvor alle Parteien mit der Durchführung des Schlichtungsverfahrens einverstanden erklärt haben. Da die Daten aus den Schlichtungsverfahren anonymisiert erfasst und in einer bundesweiten statistischen Erhebung zusammengeführt werden, lassen sich hieraus interessante Rückschlüsse für Arzthaftungsverfahren generell ziehen. Eine solche Übersicht gibt es bei gerichtlichen Arzthaftungsprozessen nicht, da entsprechende Daten aus den einzelnen Entscheidungen nicht erfasst werden.

In Kliniken mehr Haftungsfälle als bei Vertragsärzten

Insgesamt ist die Anzahl der von den Patienten in den Schlichtungsverfahren gestellten Anträge im Jahr 2015 gegenüber 2014 ganz leicht zurückgegangen – um knapp 2 Prozentpunkte. Weiterhin gilt aber: Der Krankenhausbereich ist deutlich häufiger betroffen als der niedergelassene Bereich, der kleinere und größere Praxen als auch Medizinische Versorgungszentren umfasst.

Die Gesamtzahl der von den Schlichtungsstellen getroffenen Sachentscheidungen belief sich im Jahre 2015 auf insgesamt 8.203 Fälle. Davon entfielen 6.087 (etwa drei Viertel) auf den Krankenhausbereich und nur 2.116 (etwa ein Viertel) auf den niedergelassenen Bereich.

In drei Viertel der Fälle „gewinnt“ der Arzt

Bei der überwiegenden Anzahl der eingereichten Fälle sehen die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen keinen Behandlungsfehler. So wurden im Jahre 2015 für den Krankenhausbereich nur in rund ein Viertel der Fälle ein Behandlungsfehler oder ein Risikoaufklärungsmangel bejaht. Ausschließlich ein Risikoaufklärungsmangel – ohne flankierende Behandlungsfehler – wurde nur in weniger als ein Prozent der Fälle gesehen.

Aufklärungsfehler landen meist direkt vor Gericht

Was die Aufklärungsrügen betrifft, ist eine „Hochrechnung“ auf die auch vor den Gerichten anhängigen Arzthaftungsverfahren jedoch schwierig. Dies liegt daran, dass Patienten, die eine mangelhafte Aufklärung monieren, wahrscheinlich eher sogleich die Zivilgerichte anrufen werden als eine Schlichtungsstelle, bei der geführte Aufklärungsgespräche etwa durch Zeugenvernehmungen nur eingeschränkt überprüft werden können. Auch wenn es hierüber keine validen Zahlen gibt, dürfte die Quote der Aufklärungsrügen vor den Gerichten deutlich höher sein als vor den Schlichtungsstellen.

Unfallchirurgie/Orthopädie ist weiterhin „Spitzenreiter“

Aus den Zahlen über die Verteilung der festgestellten Behandlungsfehler und Risikoaufklärungsmängel auf die einzelnen Bereich in Krankenhaus und Praxis ergibt sich, dass der Bereich Unfallchirurgie/Orthopädie nach wie vor klar im Fokus möglicher Behandlungsfehler steht. Die am häufigsten betroffenen Bereiche sind die Folgenden:

  • Fehler nach Fachgebieten
Krankenhausbereich
6.087
Niedergelassener Bereich
2.116
Unfallchirurgie/ Orthopädie 1.933 (31,8 %) Unfallchirurgie/ Orthopädie 525 (24,8 %)
Allgemeinchirurgie 952 (15,6 %) Hausärztlich tätiger Arzt 272 (12,9 %)
Innere Medizin 541 (8,9 %) Allgemeinchirurgie 213 (10,1 %)
Frauenheilkunde 321 (5,4 %) Frauenheilkunde 161 (7,6 %)
Neurochirurgie 279 (4,7 %) Innere Medizin 151 (7,1 %)
Anästhesiologische und Intensivmedizin 243 (4,0 %) Augenheilkunde 147 (7,0 %)
Urologie 193 (3,2 %) Radiologie 100 (4,7 %)
Neurologie 162 (2,7 %) HNO Heilkunde 81 (3,8 %)
Geburtshilfe 160 (2,6 %) Haut- und Geschlechts-Erkrankungen 71 (3,4 %)
Kardiologie 153 (2,5 %) Urologie 62 (2,9 %)

 

Zudem lässt sich aus der Tabelle erkennen, dass die „schneidenden“ – also chirurgischen – Fächer deutlich haftungsträchtiger sind als die konservativen Gebiete. Dies muss aber nicht daran liegen, dass hier auch tatsächlich mehr Behandlungsfehler begangen werden. Spekulierend kann man vermuten, dass für die Patienten der Vergleich postoperativ zu präoperativ bzw. den mit der Operation verbundenen Erwartungen leichter ist als die Bewertung etwa einer rein medikamentösen Behandlung.

Was sind die häufigsten Fehlerarten?

Um die „neuralgischen“ Punkte im Behandlungsmanagement erkennen und die nachgeordneten Ärzte entsprechend sensibilisieren zu können, sollte der Oberarzt wissen, in welchen Abschnitten der Diagnostik oder Therapie im Krankenhausbereich die häufigsten Fehler vorkommen.

Auch dies wurde in der aktuellen Erhebung veröffentlicht, wie die nachfolgende Tabelle zeigt:

  • In welchem Abschnitt passieren die meisten Fehler?
Krankenhausbereich
2.094
Therapie operative Durchführung 529 (25,3 %)
Diagnostik, bildgebende Verfahren 288 (13,8 %)
Therapie postoperative Maßnahmen 182 (8,7 %)
Indikation 139 (6,6 %)
Diagnostik, Anamnese/ Untersuchung 129 (6,2 %)
Diagnostik, Labor/ Zusatzuntersuchungen 107 (5,1 %)
Therapie, Pharmaka 105 (5,0 %)
Therapie postop., Infektion 67 (3,2 %)
Therapie op., Verfahrenswahl 65 (3,1 %)
Therapie, konservativ 47 (2,2 %)

 Einordnung

Experten gehen davon aus, dass die Anzahl der Arzthaftungsverfahren nicht signifikant sinkt, sondern zukünftig möglicherweise noch ansteigen wird. Dabei spielt vor allem eine Rolle, dass Patienten heutzutage aufgeklärter sind als früher und sich vielfach im Vorfeld ihrer Behandlung über das Internet umfassend informieren.

Auf der anderen Seite spielt sicherlich auch eine Rolle, dass sich z. B. Oberärzte im Krankenhaus teilweise einer zunehmenden Drucksituation ausgesetzt sehen. Wenn vonseiten der Klinikgeschäftsführung aus wirtschaftlichen Gründen Betten abgebaut werden, gleichzeitig aber eine Erhöhung der Anzahl stationärer Behandlungsfälle gewünscht wird, geht dies unweigerlich mit einer Kürzung der Verweildauer der Patienten einher. Je schneller und geraffter jedoch Behandlungen erfolgen müssen, desto eher können sich Fehler einschleichen. Dies zumal vor dem demografischen Hintergrund des Alterns der Gesellschaft, was die Anzahl älterer multimorbider Patienten in den Kliniken erhöht.

FAZIT | Dass bei bildgebenden Verfahren am zweithäufigsten Fehler passieren, ist beklagenswert, weil diese oft vermeidbar sind. Hier geht es meist um die richtige Abstimmung mit Radiologen, die offenbar nicht immer funktioniert. Der Oberarzt sollte die beiden Tabellen den Assistenzärzten seiner Abteilung vor Augen führen, um sie für die relevanten Konstellationen zu sensibilisieren.