Gesundheitspolitik

Mehr Diabetiker in Krankenhäusern als vermutet

Mehr Patienten in deutschen Krankenhäusern als bisher erfasst haben wohl Diabetes mellitus. Offizielle Statistiken in deutschen Krankenhäusern erfassen aufgrund methodischer Schwächen nicht das wirkliche Ausmaß der Erkrankung. Auch Diabetes als Todesursache wird offenbar weitestgehend unterschätzt.

Der Fachbeirat Diabetes des Ministeriums für Soziales und Integration Baden-Württemberg bezieht sich in einer aktuellen Stellungnahme auf eine systematische Untersuchung am Universitätsklinikum Tübingen. Diese zeigt, dass tatsächlich doppelt so viele Patienten mit Diabetes in baden-württembergischen Kliniken versorgt werden als bislang angenommen. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) warnt daher vor einem Mangel an diabetologischem Fachpersonal und finanziellen Kürzungen in diesem Bereich.

Zu den wichtigsten Folgeerkrankungen des Diabetes zählen koronare Herzkrankheiten, Schlaganfall, Durchblutungsstörung der Beine, die diabetesbedingte Netzhauterkrankung des Auges, die dialysepflichtige Nierenschwäche und neurologische Störungen. Nicht selten sind diese Erkrankungen auch die Todesursache für Diabetes-Patienten. „Bei einer stationären Aufnahme werden jedoch diese Patienten – je nach Art der Diabetes-Folgekomplikation – der entsprechenden Fachabteilung wie der Kardiologie, Angiologie, Nephrologie, Chirurgie oder Neurologie zugewiesen, obwohl der Diabetes mellitus die Ursache für die Komplikation ist“, erklärt Prof. Dr. med. Baptist Gallwitz, stellv. Direktor der Medizinischen Klinik IV am Universitätsklinikum Tübingen. „Damit verschwindet der Diabetes als Hauptdiagnose aus dem Fallpauschalensystem DRG und folglich aus allen daraus abgeleiteten Statistiken.“

Für eine Studie des Universitätsklinikums Tübingen erfassten Ärztinnen und Ärzte bei allen Patienten, die in einem repräsentativen vierwöchigen Zeitraum im Jahr 2016 in der Klinik stationär aufgenommen wurden, die Haupt- sowie Nebendiagnose Diabetes. So sollte überprüft werden, wie hoch die Zahl an bekannten und unerkannten Diabetespatienten tatsächlich ist, die in einem Krankenhaus behandelt werden. Zusätzlich bestimmten die Mediziner in allen Abteilungen des Universitätsklinikums bei jedem Patienten über 18 Jahren den HbA1c Wert. So konnten sie auch Patienten mit bislang unerkanntem Diabetes oder Hinweis auf eine beginnende Diabeteserkrankung identifizieren.

„Das Ergebnis ist alarmierend: Durchschnittlich 22 Prozent der in allen Abteilungen des Klinikums erfassten Patienten hatten eine Diabeteserkrankung“, erläutert Prof. Dr. med. Andreas Fritsche, Studienautor und Mitglied des Fachbeirats Diabetes aus Tübingen. Hochgerechnet auf Baden-Württemberg würden demzufolge jährlich rund 500.000 Diabetespatienten im Krankenhaus behandelt.

Das bedeutet, dass 2016 nicht etwa jeder achte Krankenhaus-Patient eine Diabeteserkrankung hatte, wie offizielle Zahlen des Statistischen Bundesamts verlautbaren, sondern jeder vierte Patient – also doppelt so viele wie bislang angenommen. Eine retrospektive Analyse am Klinikum Stuttgart bestätigt diese Zahlen: Dort ergab sich sogar eine Rate von rund 30 Prozent der stationär behandelten Patienten mit der Diagnose Diabetes mellitus.

Aus diesen Zahlen leitet der Fachbeirat Diabetes in seiner Stellungnahme ab, dass der zukünftige Bedarf an diabetologischen Fachabteilungen in Krankenhäusern unterschätzt wird und somit auch zu wenige Ausbildungsstellen für die Weiterbildung in der Diabetologie innerhalb aller medizinischen Berufsgruppen zur Verfügung stehen.

Auch in Kinderklinken zeichnet sich ein besorgniserregendes Bild ab: „Mehr als 3.000 Kinder und Jugendliche erkranken in Deutschland jährlich neu an einem Typ-1-Diabetes“, erläutert Prof. Dr. med. Andreas Neu, Leiter der Diabetes-Ambulanz der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen. „Die Neuerkrankungsrate an Diabetes Typ 1 hat sich damit in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt.“ Viele Kliniken sind diesem Anstieg nicht gewachsen und personell unzureichend ausgestattet. Zudem ist eine adäquate Vergütung der Schulungen und Langzeitbetreuung in diesem Bereich derzeit nicht gewährleistet. „In Anbetracht der steigenden Erkrankungsraten bei Kindern und Jugendlichen ist dies alarmierend“, mahnt der Experte.

„Wenn bislang fehlinterpretierte Zahlen die tatsächlichen stationären Behandlungsfälle in Zusammenhang mit Diabetes mellitus verdecken, besteht Handlungsbedarf“, schlussfolgert Müller-Wieland. Zum einen müsse die Diabetologie im Fallpauschalensystem DRG besser berücksichtigt werden. Zum andern schließt sich die DDG den Forderungen des Fachbeirats Diabetes an, diabetologische Schwerpunkte an Kliniken zu erhalten, diabetologische Fachabteilungen strukturell zu unterstützen und die Weiterbildung Diabetologie in der Klinik und Ambulanz zu fördern, um auch mittelfristig die stationäre und ambulante diabetologische Versorgung bedarfsgerecht sicherzustellen.

Weitere Informationen hier.

Quellen:

Diabetes mellitus in der Klinik – Stellungnahme des Fachbeirates Diabetes des Ministeriums für Soziales und Integration Baden-Württemberg

Maßnahmenplan zur Umsetzung des Gesundheitsziels „Diabetes mellitus Typ 2 Risiko senken und Folgen reduzieren“ auf Landesebene Baden-Württemberg