Post-COVID und Long-COVID – DGP stellt neue interdisziplinäre S1-Leitlinie zu Coronafolgen vor
Was läuft bei einer SARS-CoV-2-Infektion im Körper ab, warum erkranken Infizierte unterschiedlich schwer und weshalb erholen sich manche Menschen deutlich rascher von der Infektion als andere? Auch nach rund eineinhalb Jahren der Corona-Pandemie sind diese Fragen noch nicht im Detail beantwortet. Festzustehen scheint jedoch, dass bis zu 15 Prozent der akut Erkrankten noch über die vierte, teilweise auch über die zwölfte Woche nach Krankheitsbeginn hinaus unter einem oder mehreren COVID-bedingten Symptomen leiden. Wie mit diesen als Long-COVID oder Post-COVID bezeichneten Syndromen umzugehen ist und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt, regelt nun eine neue S1-Leitlinie, die unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e. V. (DGP) entstanden ist.
„Die Leitlinie versteht sich als klinisch-praktischer Leitfaden für die Diagnose und Therapie einer Post-COVID- oder Long-COVID-Erkrankung“, sagt Professor Dr. med. Michael Pfeifer, Pastpräsident der DGP. Die Empfehlungen richten sich sowohl an Hausärztinnen und -ärzte, die bei neu auftretenden Beschwerden oft als erste Anlaufstelle fungieren und über die weiteren Behandlungspfade entscheiden, als auch an Ärztinnen und Ärzte unterschiedlichster Fachrichtungen, die mit den vielfältigen Coronafolgen konfrontiert seien. „Bereits die Diagnose ist oft eine Herausforderung“, betont Pfeifer, „denn Long-COVID ist nicht an einen schweren Krankheitsverlauf von COVID-19 gebunden.“ Auch sehr milde Verläufe könnten zu Spätsymptomen führen, die dann nicht zwangsläufig mit COVID-19 in Verbindung gebracht würden. Eine weitere Hürde sei die große Vielfalt der Krankheitssymptome, die zudem oft recht unspezifisch seien. „Wir haben es oft mit Beschwerden wie Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen oder einer extremen Abgeschlagenheit zu tun“, so Pfeifer. Hier sei die Abgrenzung psychischer und somatischer Symptome schwierig.
Aufgrund der häufig noch begrenzten Datenlage kann die Leitlinie noch keine auf formaler Evidenz beruhenden Empfehlungen geben. Vielmehr basiert sie auf dem informellen Konsens der beteiligten Experten. „Viele Fragen zu Diagnose und Therapie von Long-COVID sind noch offen“, so Pfeifer – diese seien auch als Fragen in die Leitlinie mit aufgenommen worden.
Den S1-Charakter der Leitlinie betont auch Dr. med. Monika Nothacker, stellvertretende Leiterin des Instituts für Wissenschaftliches Wissensmanagement der AWMF. Während die Erstellung einer auf formaler Evidenz basierenden S3-Leitlinie ein bis drei Jahre in Anspruch nehme, seien in der Pandemie deutlich schnellere Handlungsempfehlungen notwendig. Hier lobt sie das große Engagement der Fachgesellschaften, die bis dato 18 Leitlinien zu COVID-19 erstellt hätten, die meisten als S1-Leitlinie, jedoch auch eine S2k- und zwei S3-Leitlinien. Die Erstellung der nun vorgestellte S1-Leitlinie zu Post-COVID habe von der Anmeldung Ende März bis zur Veröffentlichung Mitte Juli nur dreieinhalb Monate benötigt. Dies sei nur durch das hohe ehrenamtliche Engagement des Koordinators zusammen mit den beteiligten Experten aus 21 Fachgesellschaften, Organisationen und Institutionen sowie durch gestraffte Abläufe im AWMF-Leitlinienregister möglich gewesen.
Wenn es um die langfristigen Coronafolgen geht, herrscht international noch immer ein recht unterschiedlicher Sprachgebrauch. Daher soll mit der Leitlinie auch eine einheitliche Definition dessen verankert werden, was unter den Begriffen Post-COVID und Long-COVID überhaupt zu verstehen ist. „Wir orientieren uns an der Nomenklatur des Britischen National Institute for Health and Clinical Excellence – NICE“, erläutert Professor Dr. med. A. Rembert Koczulla, Chefarzt am Fachzentrum für Pneumologie der Schön Klinik Berchtesgadener Land und Koordinator der Leitlinie. Als Long-COVID-Syndrom wird demnach das Fortbestehen COVID-19-typischer Symptome über einen Zeitraum von vier Wochen nach der Infektion hinaus bezeichnet. Wenn Symptome über die Woche 12 hinaus bestehen, spricht man von einem Post-COVID-Syndrom. Dabei werden nicht nur Symptome berücksichtigt, die aus der akuten Erkrankung fortbestehen, sondern auch solche, die aus der Behandlung resultieren oder die nach Ende der akuten Phase, aber dennoch als Folge der COVID-19-Erkrankung aufgetreten sind. Auch die Verschlechterung einer vorbestehenden Grunderkrankung zählt dazu.
Wie vielfältig die Symptomatik und wie komplex die Behandlung stark betroffener COVID-Patientinnen und -Patienten sein kann, machte Frank Elsholz, Oberarzt und Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin an der LungenClinic Grosshansdorf deutlich. „Bei Patienten, die nach einem längeren Aufenthalt auf der Intensivstation zu uns kommen, besteht in der Regel ein vollständiger Verlust oder zumindest eine deutliche Einschränkung der Selbstständigkeit“, sagt Elsholz. Neben Schäden durch die Erkrankung selbst – am häufigsten einer Beeinträchtigung der Lungenfunktion – litten die Patienten auch unter starkem Muskelabbau mit weitgehendem Funktionsverlust der Rumpfmuskulatur, der Arme und der Beine. Gehen und Stehen, Halten und Greifen sei nicht immer möglich, hinzu kämen oft neurologische Symptome wie Gedächtnisstörungen und Konzentrationsverlust. Als Folge der Beatmung könne auch die Schluck- und Sprechfähigkeit eingeschränkt sein. In der Frührehabilitation sei daher eine intensive interdisziplinäre Betreuung notwendig, bei der Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger und Therapeutinnen und Therapeuten unterschiedlicher Fachrichtungen eng abgestimmt zusammenarbeiten.
Um das breite Spektrum von Long-COVID-Symptomen abzubilden, wurden in die Leitlinienarbeit 14 Fachgesellschaften sowie weitere Expertengremien und Patientenverbände eingebunden. „Diese Interdisziplinarität und die rasche Erstellung sind sicherlich herauszuheben“, sagt Koordinator Koczulla. Die Leitlinie spiegele den derzeitigen Stand des Wissens wider und werde fortlaufend aktualisiert.
Leitlinie Post-COVID/Long-COVID: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/020-027.html