Ambulante Versorgungen belasten die Notaufnahmen
Die klinische Notfallmedizin in Deutschland leidet an Unterfinanzierung und anderen strukturellen Defiziten. Prof. Dr. Christoph Dodt, Präsident der Deutschen Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA), leitet die Notaufnahme am Krankenhaus München-Bogenhausen. Er hat Ideen erarbeitet, die Probleme zu lösen – bei optimaler Patientenversorgung. Nun sind politische Entscheidungen gefragt. Mit Professor Dodt sprach OH-Autor Bernd Hein, Fachjournalist Gesundheitswesen.
Redaktion: Herr Professor Dodt, Sie bemängeln ein strukturelles Problem in den Notaufnahmen deutscher Kliniken. Wie ist das zu verstehen?
Prof. Dr. Christoph Dodt: Die Notaufnahmen müssen Patienten behandeln, die später stationär aufgenommen werden, aber auch solche, die lediglich ambulant zu behandeln sind, also unter die kassenärztlichen Regeln der Honorierung fallen. Häufig ist zunächst nicht zu unterscheiden, ob später eine stationäre Behandlung notwendig wird. Die ambulant zu versorgenden Patienten verursachen den Krankenhäusern erhebliche Vorhaltungskosten, die nicht angemessen vergütet werden.
Redaktion: Betreffen die Defizite ausschließlich ambulante Patienten?
Dodt: Ja. Schwerkranke oder krankenhauspflichtige Patienten werden in Deutschland durch ein sehr leistungsfähiges System versorgt und über die Notaufnahmen in die Krankenhäuser aufgenommen. Das sehe ich als unproblematisch an. Hier gibt es auch keine Erlösdefizite, sondern innerhalb des Krankenhauses vielleicht nur ein Ungleichgewicht bei der Verteilung der Leistungsberechnung. Das wirkliche Problem entsteht mit Patienten, bei denen sich in der Notaufnahme herausstellt, dass sie keine Krankenhausbehandlung brauchen. Für diese Gruppe erhalten wir keine vernünftige Vergütung.
Redaktion: Worin liegen die Ursachen dafür?
Dodt: In Deutschland wurde den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) die Notfallversorgung ambulanter Patienten übertragen. Sie leisten sie jedoch nicht zu den Zeiten, in denen die Praxen der niedergelassenen Ärzte geöffnet haben, weil sie davon ausgehen, dass diese dann die Behandlung übernehmen. Sie leisten sie auch nicht während der Zeiträume, in denen das Patientenaufkommen eine bestimmte Frequenz unterschreitet. Es rechnet sich für sie ganz offensichtlich nicht, eine Notfallversorgung aufrechtzuerhalten, wenn weniger als sechs Patienten pro Stunde in eine solche Einheit kommen. Während die Bereitschaftspraxen geschlossen sind, gehen die Patienten natürlich ins Krankenhaus. Dort müssen Kapazitäten für die stationären Patienten vorgehalten werden. Sie werden somit von den ambulanten Patienten mitgenutzt, die vor allem aber tagsüber ins Krankenhaus kommen. Sie wissen, dass dort jederzeit alle diagnostischen Mittel verfügbar sind und die Ergebnisse der Diagnostik schnell vorliegen. Das wiegt offenkundig die längeren Wartezeiten auf.
Redaktion: Wenn es jemandem zu Hause schlecht geht, wählt er den Notruf 112. Beginnt damit nicht eine Kaskade, die zwangsläufig ins Krankenhaus führt?
Dodt: Das muss nicht sein. Wenn man krank ist, aber nicht ins Krankenhaus möchte, sollte man besser die Nummer 116 117 wählen, mit der man den bereitschaftsärztlichen Notdienst erreicht. Wer sich mit der hier gebotenen Behandlung nicht ausreichend versorgt fühlt und dann 112 wählt, landet tatsächlich in der Notaufnahme – es sei denn, die Situation erweist sich als harmlos.
Redaktion: Handelt es sich vor allem um ein finanzielles Problem, dem die Notaufnahmen gegenüberstehen?
Dodt: Zunächst einmal ist es wohl ein Strukturproblem. Notfallpatienten haben drei Möglichkeiten, medizinische Hilfe zu erlangen: die niedergelassenen Ärzte, den Rettungsdienst oder direkt das Krankenhaus. Es ist für sie nicht leicht, zu entscheiden, wer der geeignete Ansprechpartner in der jeweiligen Situation ist. Jede dieser Säulen der Notfallversorgung hat eine eigene Finanzierungsstruktur. Die Niedergelassenen erhalten Geld im Rahmen ihrer Budgets von den Krankenversicherungen, der Rettungsdienst von den Krankenversicherungen und im Zuge der hoheitlichen Aufgaben von der öffentlichen Hand und die Krankenhäuser werden aus den stationären Versorgungstöpfen bezahlt. Ein Patient kann während einer Erkrankung alle drei Möglichkeiten in Anspruch nehmen. Er geht z. B. wegen Brustschmerzen zum Hausarzt. Der vermutet einen Herzinfarkt und ruft den Rettungsdienst, der den Patienten ins Krankenhaus transportiert. Dort stellt sich heraus, dass die Schmerzen von einem verklemmten Wirbel stammen und der Patient wird nach Hause geschickt. Für diese Maßnahmen bekommt der Hausarzt je nach Uhrzeit etwa 16 bis 28 Euro, der Rettungsdienst berechnet 350 Euro, wenn ein Arzt dabei war, sogar über 500 Euro und das Krankenhaus noch einmal ca. 28 Euro. Dieser eine Fall verursacht also drei Rechnungen. Besser wäre ein Konzept, in dem alles aus einem Guss ist. Dazu gehört auch eine vernünftige Finanzierung.
Redaktion: Haben Sie dazu einen Vorschlag?
Dodt: Es scheint unmöglich, mit einem großen Wurf alle Schwachstellen zu beseitigen. Es könnte sinnvoll sein, ein transparentes Modell einzurichten, in dem die Patienten eine zentrale Anlaufstelle haben, z. B. das Notfallzentrum in einem Krankenhaus, das sich um alle Belange kümmert – aber abgestuft. Denn es ist klar, dass nicht jeder Patient eine hochpreisige Krankenhausbehandlung braucht. Es muss innerhalb eines solchen Versorgungszentrums also eine gegliederte Versorgung geben, die kostendeckend und bedarfsorientiert funktioniert.
Redaktion: Wie bekommt man den Patienten in das Krankenhaus, um ihn auf diesen Clinical Pathway zu bringen?
Dodt: Der Patient muss wissen, wen er anrufen muss. Man kann mithilfe der modernen Medien auch ein Patientenleitsystem installieren. Dazu eignet sich z. B. eine App, in die man seine Beschwerden eingeben kann und die besonders bedrohliche Symptome abfragt und dann einen Vorschlag generiert, an welche Stelle man sich wenden sollte. So etwas gibt es in anderen Ländern bereits.
Redaktion: Glauben Sie, dass auch hochaltrige Menschen diese Technik bedienen könnten?
Dodt: Falls das nicht klappt, muss halt das Telefon ran. Man kann natürlich die Beratung auch so gestalten, wie es in den Leitstellen der Rettungsdienste längst geschieht. Dann müsste man eine Ebene vor den Notfallzentren einrichten, die dem Patienten zuverlässig erklärt, wo er sich am besten behandeln lassen sollte. In Dänemark müssen Patienten eine Zuzahlung leisten, wenn sie im Krankenhaus erscheinen, ohne vorher angerufen zu haben. So entsteht ein Anreiz, sich zunächst vernünftig kategorisieren zu lassen.
Redaktion: Sie haben die Rufnummer des Bereitschaftsdienstes genannt, 116 117. Hat sie gegenüber der allseits bekannten 112 ein Popularitätsproblem?
Dodt: Sicher ist die 112 deutlich bekannter. Und sie ist bei Lebensgefahr auch der richtige Weg. Außerdem funktioniert die 116 117 nicht flächendeckend rund um die Uhr.
Redaktion: Reicht die Vergütung der Leistungen klinischer Notfallmedizin, um eine Notaufnahme kostendeckend zu betreiben?
Dodt: Aktuell nicht: Für die Vorhaltung von Personal, Räumen und Material für jeden ambulanten Patienten würden wir durchschnittlich 120 Euro benötigen. Tatsächlich bekommen wir nur 20 bis 35 Euro. Hier arbeiten wir eindeutig defizitär. Dafür sehe ich noch keine Lösung. Der Gesetzgeber bemüht sich mit dem Krankenhausstrukturgesetz um eine vernünftige Finanzierung der stationären Versorgung. Für den ambulanten Teil ist das noch nicht abzusehen. Solange die KVen sagen, sie können die Versorgung für weniger Vergütung gewährleisten, wäre eine derartige Anstrengung auch nicht zielführend. Dann aber müssen sie die niedergelassenen Ärzte in die Notaufnahmen bringen und deren Leistung 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche sicherstellen.
Redaktion: An manche Krankenhäuser ist eine Bereitschaftspraxis angegliedert. Wäre das ein denkbares Modell?
Dodt: Das kann gut funktionieren, denn in jeder vernünftig arbeitenden Notaufnahme findet zunächst eine Ersteinschätzung des Patienten statt. Sie kann ergeben, dass er in einer Bereitschaftspraxis gut und ökonomisch sinnvoll zu behandeln wäre. Wenn sich die Praxis in unmittelbarer Nähe zur Notaufnahme befindet, ist diese Kooperation ein probates Mittel, das System zu entlasten.
Redaktion: In Notaufnahmen kommt es immer wieder zu stundenlangen Wartezeiten. Gibt es also zusätzlich ein Personalproblem?
Dodt: Die Wartezeiten sind in der klinischen Notfallmedizin nahezu naturgegeben. Woran das genau liegt, wäre jeweils zu untersuchen: Personalmangel, Patienten, die auf dem Weg zur Weiterversorgung feststecken, starker Andrang von Patienten usw. Abgesehen davon glaube ich, gibt es keine Notaufnahme, die von sich behaupten kann, sie verfüge über genug Personal. Wenn nämlich die Finanzierung nicht stimmt, wird man aus wirtschaftlichen Gründen nicht noch mehr Geld in den defizitären Unternehmensteil stecken.
Redaktion: Könnte eine flexiblere Dienstplanung helfen?
Dodt: Solche Konzepte haben wir bereits. In unserer Notaufnahme sehen wir etwa 40.000 Patienten pro Jahr. Wir wissen genau, zu welchen Tageszeiten der Ansturm besonders groß ist und halten dann natürlich mehr Mitarbeiter bereit. Das betrifft vor allem die Mittagszeit und den Nachmittag. Unsere Personalberechnung und -verteilung ist so flexibel, dass wir zu 90 Prozent des Jahres genügend Mitarbeiter zur Verfügung haben sollten.
Redaktion: Sollten in jedem Haus Ärzte beschäftigt sein, die ausschließlich für die Notfallmedizin zuständig sind?
Dodt: Die Arbeit in der Notaufnahme erfordert Ärzte, die ein großes Aufgabenspektrum bedienen können – allerdings nicht in der Tiefe, wie z. B. ein Chirurg, der vor allem operieren können muss. Deshalb sind für die Diagnostik in der klinischen Notfallmedizin Ärzte ideal geeignet, die ihre Ausbildung in Richtung Allgemeinmedizin erhalten. Das reicht aber nicht für die Notfalltherapie. Dazu braucht man zusätzlich umfassende Kenntnisse in der Lebensrettung und der Stabilisierung vital gefährdeter Patienten, also intensivmedizinische Kompetenz. Wir plädieren deshalb für einen speziellen Ausbildungsgang. In 19 europäischen Staaten gibt es Fachärzte für Notfallmedizin. In Deutschland ist das momentan nicht durchsetzbar. Deshalb streben wir in Zusammenarbeit mit der Dachorganisation der Fachgesellschaften eine Zusatzweiterbildung an, die sich an eine Facharztweiterbildung anschließt. Sie erfordert mindestens zwei Jahre Tätigkeit in einer interdisziplinären Notaufnahme und zusätzlich, dass man Einsätze auf der Intensivstation absolviert hat und die Zusatzbezeichnung „Notfallmedizin“ führt. In Berlin gibt es diesen Ausbildungsgang bereits, andere Bundesländer sind dabei, ihn einzurichten. In den entsprechenden Gremien, etwa der Bundesärztekammer, besteht dazu Konsens, leider nicht für den Facharzt, aber immerhin für diese Zusatzweiterbildung. Sie wird wohl spätestens 2020 eingeführt und einen deutlichen Qualitätssprung auslösen. Für das Pflegepersonal gibt es inzwischen die zweijährige Fachweiterbildung „Notfallpflege“. Auch sie wird die Qualität in den Notaufnahmen steigern.
Redaktion: Wie geht es künftig weiter mit der Notfallmedizin?
Dodt: Nach dem Krankenhausstrukturgesetz wird man die Notfallmedizin auf bestimmte Standorte konzentrieren. Diese werden dann ein sehr großes Spektrum abdecken und in Bezug auf stationäre Patienten besser finanziert sein. Die Versorgung ambulanter Patienten ist Thema kontroverser politischer Diskussionen. Es geht darum, neue Strategien zu entwickeln, zu denen der Ausbau von Leitsystemen gehört sowie die Vernetzung zwischen den Versorgern. Wir müssen die Spezialisierungstendenz in der Medizin optimal nutzen. Das heißt für die Notaufnahmen, den Patienten so gut wie möglich vorzubereiten, damit die Weiterbehandlung in den Fachabteilungen rasch und zielgerichtet erfolgen kann. Deshalb ist es so bedeutsam, dass die Notaufnahme wie eine generalistische, nicht fachgebundene Fakultät am Anfang des Prozesses steht und dem Patienten einen optimalen Weg durch das Krankenhaus bahnt. So lassen sich die Ressourcen optimal nutzen.