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EBM-Notfallvergütung seit 01.04.2017: mehr Bürokratie und weniger Erlöse

von Dr. Christopher Niehues, LL.M., Betriebswirt und Krankenhausberater, HC&S AG – Healthcare Consulting & Services, Münster, www.hcs-consult.de

Die Behandlung und Vergütung ambulanter Notfallpatienten ist seit Jahrzehnten ein strittiges Thema zwischen Krankenhäusern und den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen). Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist die Verbesserung der Struktur und Vergütung der Notfallversorgung in Krankenhäusern vorgesehen. Mit der zum 01.04.2017 geänderten EBM-Notfallvergütung zeigt sich zum Ende der Legislaturperiode jedoch, dass sich die Situation verschlechtert.

Noch keine Änderungen im stationären Bereich

Mit dem Krankenhausstrukturgesetz war für 2017 ein gestuftes System der Notfallversorgung vorgesehen. Es sollten Mindeststandards für Personal und Ausstattung definiert sowie entsprechende Zu- und Abschläge vereinbart werden. Im Ergebnis hätte das eine reine Umverteilung zwischen den Krankenhäusern bedeutet: Die Abschläge dürften insbesondere kleinere Krankenhäuser treffen. Wohl mit Rücksicht auf die Bundestagswahl wurde das Vorhaben kurzfristig Ende letzten Jahres verschoben.

Änderung der EBM-Notfallvergütung zum 01.04.2017

Unabhängig von der Diskussion um das gestufte System der Notfallversorgung ist seit 01.04.2017 eine Änderung der Vergütung von ambulanten Notfallpatienten in Kraft. Neben einer besseren Kooperation zwischen KV-Notdienst und Krankenhäusern lautete der gesetzliche Auftrag gemäß § 87 Abs. 2a Sozialgesetzbuch (SGB) V: „Der Bewertungsausschuss nach Abs. 5a hat bis spätestens zum 31.12.2016 die Regelungen für die Versorgung im Notfall und im Notdienst im einheitlichen Bewertungsmaßstab für ärztliche Leistungen nach dem Schweregrad der Fälle zu differenzieren.“

MERKE | Der Beschluss sowie die Begründung zur Änderung der Notfallvergütung vom 07.12.2016 sind beim Institut des Bewertungsausschusses erhältlich. Unter institut-ba.de > Ergänzter Bewertungsausschuss > Beschlüsse können Sie beide Dokumente als PDF herunterladen.

Hintergrund: ergänzter erweiterter Bewertungsausschuss

Bislang hat der Bewertungsausschuss als Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen den EBM als Abrechnungsgrundlage für ambulante Leistungen bestimmt. In wenigen Bereichen dürfen Krankenhäuser direkt ambulante Leistungen erbringen. In diesen Fällen wird der Bewertungsausschuss um Mitglieder der deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) ergänzt und als ergänzter Bewertungsausschuss bezeichnet. Wenn es keine Einigung gibt, wird der ergänzte erweiterte Bewertungsausschuss als Schiedsgremium einberufen. Dies war bei der Reform der Notfallvergütung der Fall, die per Schiedsspruch beschlossen wurde.

Neue Diagnoseziffern: Nrn. 01223 und 01224 EBM

Der gesetzliche Auftrag der schweregradabhängigen Differenzierung wird formal erfüllt. Künftig können die vorgesehenen Schweregradzuschläge mit den Nrn. 01223 und 01224 EBM bei folgenden gesicherten Behandlungsdiagnosen berechnet werden:

  • Frakturen im Bereich der Extremitäten proximal des Metacarpus und Metatarsus
  • Schädel-Hirn-Trauma mit Bewusstlosigkeit von weniger als 30 Minuten (S06.0 und S06.70)
  • Akute tiefe Beinvenenthrombose
  • Hypertensive Krise
  • Angina pectoris (ausgenommen: ICDI20.9)
  • Pneumonie
  • Akute Divertikulitis

Die vorgesehenen Zuschläge von 13,48 Euro (zusätzlich zur Nr. 01210 EBM) bzw. 20,53 Euro (zusätzlich zur Nr. 01212 EBM) kommen kaum zur Anwendung, da diese Diagnosen meist zu einer stationären Behandlung führen. In Ausnahmefällen sollen die Zuschläge mit ausführlicher medizinischer Begründung auch bei anderen äußerst komplexen Diagnosen berechenbar sein. Lediglich die Zuschlagsziffer Nr. 01226 EBM mit 9,48 Euro für die Behandlung von Kleinkindern, Patienten mit krankheitsbedingt starken kognitiven Einschränkungen, geriatrischen Patienten etc. wird von Bedeutung sein. Allerdings gilt dies nicht, wenn die Einschränkungen auf psychotrope Substanzen zurückzuführen sind. Gerade letztere verursachen in Notaufnahmen einen großen Aufwand. Im Gegenzug für die selten zu erzielenden Zuschläge wird die werktägliche Notfallpauschale mit der Nr. 01210 EBM um 5,5 Prozent, d. h. 74 Cent gekürzt.

Neue Abklärungspauschalen: Nrn. 01205 und 01207 EBM

Seit dem 01.04.2017 sollen Notfallpatienten abgewiesen werden, wenn keine sofortigen Behandlungsmaßnahmen erforderlich sind und eine Behandlung durch einen Vertragsarzt möglich ist. Dazu wird die Nr. 01205 EBM für die Zeit von 7:00 bis 19:00 Uhr an Werktagen und die Nr. 01207 EBM für die übrige Zeit eingeführt. Diese umfasst die administrative Aufnahme, die Bewertung der Behandlungsnotwendigkeit und einen zwingenden Arzt-Patienten-Kontakt. Dafür sind 4,74 Euro vorgesehen und der Arzt soll in zwei Minuten entscheiden, ob eine Versorgung durch einen Vertragsarzt möglich und/oder vertretbar ist.

MERKE | Die neue Pauschale ist für die Krankenhäuser interessant, die in ihrer Klinik eine durchgehend besetzte KV-Notdienstpraxis haben. Das ist aber nur in den wenigsten Krankenhäusern der Fall.

Abgrenzung: Behandlungsnotwendigkeit und -dringlichkeit

Mit der Abklärungspauschale soll das Problem der sektoralen Trennung und unterschiedlicher Zuständigkeit zwischen Krankenhäusern und Vertragsärzten gelöst werden. Die Idee lautet: Einfache Bagatellerkrankungen werden am besten mit geringem Ressourcenaufwand durch Vertragsärzte versorgt, in Notaufnahmen nur die wirklich schweren Fälle. Was auf dem Papier logisch und sinnvoll erscheint, ist in der Praxis kaum umzusetzen.

Bei der Abklärungspauschale geht es um die Beurteilung der Behandlungsnotwendigkeit durch einen Arzt, d. h. die Erforderlichkeit sofortiger Maßnahmen im Krankenhaus. Dies darf nicht mit der international etablierten Triage verwechselt werden. Bei der Triage geht es um die Behandlungsdringlichkeit, d. h. die Zeit bis zum ersten Arztkontakt, die zeitlich davor stattfindet und durch eine Pflegekraft eingeschätzt wird.

Schwierig ist die organisatorische Umsetzung: Wann sollen welche Fachabteilungsärzte innerhalb von zwei Minuten die sofortige Behandlungsnotwendigkeit und Zumutbarkeit der Weiterleitung einschätzen? Die Triage ist ja gerade dazu da, dass sich Ärzte erst um zeitkritische Patienten kümmern und der Arztkontakt zu Patienten der Prioritäten 4 und 5 „warten kann“.

MERKE | Vor allem wenn innerhalb des Krankenhauses eine KV-Notdienstpraxis geöffnet ist, erscheint es nicht nachvollziehbar, warum ein Arzt für die Weiterleitungsentscheidung erforderlich ist. Letztlich steht der organisatorische Aufwand der „Abklärungspauschale“ in keinem Verhältnis zum Erlös i. H. von 4,74 Euro.

 

Wann ist die Weiterleitung zum Vertragsarzt zumutbar?

Aufgrund fehlender Konkretisierungen muss jede Notaufnahme unter Berücksichtigung der lokalen Besonderheiten definieren, wann eine Behandlung durch den Vertragsarzt möglich und zumutbar ist. Mit Einführung der Abklärungspauschale zum 01.04.2017 ist anzunehmen, dass die KVen die Notfallbehandlung im Krankenhaus in vielen Fällen auf die Abklärungspauschale reduzieren. Die Krankenhäuser werden nun begründen müssen, warum sofortige Maßnahmen notwendig sind und eine Versorgung durch den Vertragsarzt unzumutbar ist. Dies ist vor allem der Fall, wenn keine KV-Notdienstpraxis im Krankenhaus vorhanden bzw. geöffnet ist. Dann erscheint es begründbar, dass akute Sportunfälle, Riss- und Schnittverletzungen, Patienten mit starken Schmerzen etc. eine sofortige Behandlung in der Notaufnahme erfordern.

PRAXISHINWEIS | Schwierig wird die Begründung der sofortigen Behandlungsnotwendigkeit bei Patienten, die seit mehreren Tagen Symptome beschreiben. Bis zu 30 Prozent dieser Patienten haben zuvor erfolglos versucht, einen Vertragsarzt zu erreichen (siehe weiterführenden Hinweis). Für sie könnten Kliniken eine Mustererklärung entwickeln, mit der die Patienten bestätigen, dass sie keinen Vertragsarzt erreicht haben bzw. direkt zur Notaufnahme geschickt wurden.

 

Völlig unklar ist das Vorgehen bei Patienten, die mit dem Rettungsdienst in die Notaufnahme kommen. Das sind etwa 10 bis 20 Prozent der Patienten, die nach EBM abgerechnet werden. Bei vielen von ihnen besteht keine spezifische Notwendigkeit zur Behandlung im Krankenhaus. Gerade viele pflegebedürftige Patienten kommen zu einfachen ambulanten Maßnahmen in die Notaufnahme.

Dringender politischer Handlungsbedarf

Der Schiedsspruch ignoriert den gesetzlichen Auftrag. Es kommt zu einem deutlichen Dokumentationsanstieg und es ist insgesamt eine Vergütungskürzung zu erwarten. Es gehört vermutlich zum Kalkül der KVen, dass die Notaufnahmen weiterhin trotz Vergütungsminderung Notfälle im Sinne der Patienten versorgen. Die meisten Patienten suchen gezielt die Notaufnahme auf. Die Krankenhäuser haben keine Gatekeeper-Funktion und sind nicht zuständig für die Suche nach einer geeigneten und geöffneten Vertragsarztpraxis. Es ist bedauerlich, dass der Gesetzgeber es zulässt, dass die Notfallpatienten zum Spielball der Interessen der Selbstverwaltung werden.

Weiterführender Hinweis

  • Somasundaram, R. et al.: Beweggründe für die Inanspruchnahme von Notaufnahmen –Ergebnisse einer Patientenbefragung, Gesundheitswesen, DOI 10.10555/s-0042-112459m Abstract online unter tinyurl.com/jsvg5sg.